nd-aktuell.de / 17.04.2020 / Kultur / Seite 11

Etwas mehr Entrückung, bitte!

PLATTENBAU: Beschränkung aufs Nötigste: Das argentinische Duo Las Kellies macht tanzbaren Discopunk

Maik Bierwirth

Eigentlich hätten die Gitarristin Cecilia Kelly und die Schlagzeugerin Silvina Costa (alias Sil Kelly) aus Buenos Aires gerade ihre ausgedehnte Europatournee abgeschlossen, auf den zwanzig Konzerten ihr neues Album »Suck This Tangerine« präsentiert und mit Sicherheit einige Zuhörerinnen und Anhänger für ihre Discopunk-Band Las Kellies hinzugewonnen. Doch bevor die Tour am 26. März pünktlich zur Veröffentlichung der Platte in Großbritannien beginnen konnte, die die Gruppe auch für sechs Auftritte nach Deutschland geführt hätte, musste sie komplett in die ungewisse Zukunft verlegt werden.

Während auf den letzten beiden Alben der Band vermehrt Dub-Einflüsse und garagige, verhallte Rock-Riffs zum Tragen kamen, ziehen Las Kellies auf »Suck This Tangerine« das Tempo wieder etwas an und orientieren sich stärker an den Klassikern des weiblichen Post-Punk wie ESG und The Slits. Die Stücke sind entsprechend geprägt von groovenden, repetitiven Bassläufen, über denen Cecilia Kelly fast schon virtuose Funk-Licks spielt, allerdings mit dreckiger Verzerrung. Im Aufnahmestudio hat sie zudem die Bässe eingespielt, nur für die Live-Auftritte ergänzt die Gast-Bassistin Manuela Ducatenzeiler die Band. Als Duo wären gelungene Konzerte auch kaum möglich, denn die Musik der Gruppe lebt vom so präzisen wie lässigen Zusammenspiel von Bass, Gitarre und Schlagzeug, bei wechselndem Lead-Gesang der beiden Kellies.

Silvina Costa setzt auf dem neuen Album darüber hinaus ein paar pointierte Percussion-Elemente ein - vergleichbar mit ihren Vorbildern, den Scroggins-Schwestern aus der Bronx, die mit ihrer Band ESG bereits vor 40 Jahren einen minimalistischen Avant-Funk in die experimentellere New Yorker Punkszene eingeführt haben, oftmals ganz ohne Gitarre. Vor acht Jahren haben Las Kellies für eine Split-Single mit ESG sogar deren Lied »Erase You« gecovert.

Sind die beiden Vorab-Auskopplungen zum Album, »Closer« und »Funny Money«, wie die meisten ihrer Songs tanzbar und catchy, finden sich auf »Suck This Tangerine« vereinzelt ebenfalls psychedelisch-verschlungenere Kompositionen. Beim vorletzten Stück etwa, »White Paradise«, verschleppt ein zusätzlich eingebauter Zweivierteltakt den Beat und eine Slidegitarre sorgt mit ihren Glissandos für Entrückung, während der mehrstimmige Harmoniegesang geradezu hippiesk anmutet. Auch dies wirkt jedoch keineswegs prätentiös, sondern verhindert, dass der Zuhörer oder auch die Band selbst es sich in den ansonsten treibenden Grooves allzu bequem macht und dadurch eine gewisse Einförmigkeit eintreten könnte.

Im Unterschied zu anderen Dancepunk-Acts der letzten Dekaden, die sich in der Riot-Grrl-Tradition bewegen, verzichten Las Kellies auf Synthesizer oder elektronische Beats, wie man sie zum Beispiel bei Kathleen Hannas früherer Gruppe Le Tigre oder der brasilianischen Band CSS (Cansei de Ser Sexy) vorfindet. Stattdessen beschränken die Argentinierinnen ihre Songs auf das Nötigste, ohne dass dies auf Kosten der melodischen und vor allem rhythmischen Komplexität ginge.

Las Kellies: »Suck This Tangerine« (Fire Records)