nd-aktuell.de / 18.04.2020 / Kultur / Seite 26

»Ich glaube John Brown war Terorist«

Sara Paretzky bewegt sich durch die Abgründe der amerikanischen Durchschnittsparanoia

Cady Perec war eine kleine Frau in Jeans und Cordjacke. Ihr kupferfarbenes Haar fiel ihr ständig über die Brille, und sie ließ ihre Papiere fallen, als sie versuchte, sich die Strähnen aus dem Gesicht zu streichen. Ich kniete nieder, um ihr beim Einsammeln zu helfen - schriftliche Highschool-Prüfungen, bei denen es offenbar um Kansas in den 1850ern ging.

»ICH GLAUBE JOHN BROWN WAR TERORIST«, hatte jemand in großen Buchstaben geschrieben, »DENN ER WOLLTE LEUTE IN DIE LUFT SPRENGEN. ER WOLLTE NICHT VERHANNDELN. ER HATTE EXTREME ANSCHAWUNGEN GENAU WIE ISIS.«

»V. I. Warshawski.«

Ich erklärte, wer ich war, wen ich suchte. Perec schüttelte langsam den Kopf. »Emerald Ferring, der Name sagt mir was. Wir haben alte VHS-Kassetten von den Filmen, die sie mit Jarvis Nilsson gemacht hat, aber ich glaub nicht, dass wir persönliche Papiere oder amtliche Dokumente haben.« »Alte Telefonbücher?«, fragte ich. »Damit lässt sich rauskriegen, wo sie gewohnt hat.« Perecs Miene hellte sich auf: Die konnte sie liefern. »Und Lawrence hat zwei Zeitungen, die kann ich durchgehen, während Sie sich die Telefonbücher vornehmen - nichts von vor 1990 ist digitalisiert, aber wir haben alles auf Mikrofiche.« Sie setzte mich an einen Tisch mit mehreren Kartons, die die Zeit von 1945, dem Jahr, als Ferrings Mutter Fort Riley verließ, bis 1968 abdeckten, als Ferring mit Nilsson nach Hollywood gegangen war. Ich fand eine Mrs. Steven Ferring in der Sixth Street von 1945 bis 1951, aber danach gar keine Ferrings mehr. Frustrierend und rätselhaft. Perec zeigte mir, wo die Sixth Street lag. Da war ein dünner Streifen Stadt an der Nordseite des Flusses, gleich hinter der Gegend, wo Peppy und ich heute umhergestreift waren. Ich hatte vom Flusspfad aus ein paar Häuser erspäht, aber das dichte Unterholz versperrte weitgehend die Sicht. Ich würde am nächsten Morgen noch mal hingehen. Ich brütete darüber, mit wem ich noch reden könnte, als Perec ein euphorisches Quieken ausstieß. »Ich hab sie! Jedenfalls 1983. Sie war bei diesen Protesten beteiligt, hier, sehen Sie mal!«

Douglas County Herald, 5. Juli 1983

Wir alle glauben an die Redefreiheit: Sie ist der Grundstein im Fundament unserer Demokratie. Wenn Amerika sich jedoch im Krieg befindet, müssen wir nachdenken, bevor wir sprechen. Die Demonstrationen gestern beim Kanwaka-Raketensilo schmecken mehr nach Verrat als nach Patriotismus. Diese Raketen sind aus gutem Grund hier: um Amerika vor einem Atomschlag seiner tödlichsten Feinde zu schützen. Unser Präsident versucht den Russen zu zeigen, dass wir uns vor nichts fürchten, was Onkel Iwan auffahren kann. Nach unserer bescheidenen Meinung grenzt das Garnieren eines Raketensilos mit Friedenszeichen aus Butterblumen gefährlich an Landesverrat, und das am Jahrestag der Geburt unserer Nation. Es schmerzt uns, jemanden, der in Kansas geboren und aufgezogen wurde, als Agitator fremder Mächte zu brandmarken, aber Emerald Ferring kuschelt mit dem linken Establishment, welches Hollywood regiert. In England haben Frauen, die mit dem Kommunismus sympathisieren, aus der Air Base Greenham Common eine peinliche Kollaboration mit den Russen gemacht. Genau das wollen rote Socken wie Emerald Ferring jetzt Lawrence antun. Es ist schon schlimm genug, dass ABC hier einen Anti-Atom-Film drehen will. Onkel Iwan wird glauben, dass Amerika es mit dem Atomkrieg nicht ernst meint. Ferrings Anwesenheit beim Raketensilo erwies sich als Magnet für randalierende Horden aus weit entfernten Städten wie St. Louis und Omaha. Der Krawall, der ausbrach, weil sie und ihre Freunde den Pöbel aufgehetzt haben, war ein Schandfleck für unser County und unsere Stadt. Sie sollte in Hollywood bleiben, zusammen mit all den anderen roten Ratten, die Amerika hassen.

»Wow. Starker Tobak«, sagte ich. »Wurde Ferring verhaftet? Was ist passiert?« Cady Perec scrollte und tippte mit dem Finger auf einen Artikel, der am folgenden Tag erschienen war. »Der Silo war Hoheitsgebiet der US-Air Force, von daher hätten sie nach Militärrecht beliebig Leute festnehmen können, aber haben sie nicht - sie haben sie nur unter Zwangsanwendung entfernt. Wollten wohl nicht noch mehr negative Publicity, als sie eh schon hatten.«

Die Air Force eskortierte die Demonstranten zu Bussen, die sie nach Lawrence brachten, wo es ihnen freistand, ihren Angelegenheiten nachzugehen. Auf Ersuchen von US-Air Force Colonel Malcolm Pavant halten wir Fotos der Demonstranten zurück. Wir möchten nicht, dass Leute sich mit der Verschandelung einer militärischen Einrichtung auch noch öffentlich brüsten können.

Der Artikel schloss mit einem Kommentar von Colonel Pavant, der sagte, die Air Force wisse die Unterstützung der lokalen Sicherheitskräfte zu schätzen, »und auch den Rückhalt der vielen Bürger von Kansas, die verstehen, dass man im Angesicht eines Feindes wie den Russen bereit sein muss, Opfer zu bringen«. Auf die Art der zu bringenden Opfer ging Pavant nicht näher ein, aber ich nahm an, dass Eingeäschertwerden im nuklearen Inferno dazugehörte. Cady Perec rückte zur Seite, und ich überflog die Zeitungen der nächsten paar Tage, aber sie hatte recht, es gab keine weitere namentliche Erwähnung von Emerald Ferring, so wenig wie von anderen Protestierenden. Der Douglas County Herald tat seine Pflicht als gewissenhafter Verfechter des ersten Zusatzartikels, indem er Menschen, die sich friedlich versammelten, aus der Berichterstattung heraushielt. »Existiert der Raketensilo noch?«, fragte ich. »Wo liegt er?«

»Ungefähr fünf Meilen östlich vor der Stadt. Nach dem Kalten Krieg haben sie die Raketen rausgeholt. Wir hatten hier im Mittleren Westen Tausende davon. Es gab Gespräche, dann Verträge zwischen uns und den Russen, und dann fing die Air Force an, die Marschflugkörper abzubauen. Jedenfalls, den Kanwaka-Silo will jetzt ein Projektentwickler kaufen und in Eigentumswohnungen für Prepper umwandeln.«

»Das ist doch ein Scherz, oder?«

Cady Perec schnitt eine Grimasse. »Nein, das passiert überall im Land. Manche Leute kaufen die Dinger, weil sie billig sind und weil sie es cool finden, aber ein paar von den großen Silos werden umgebaut, Projektentwickler verwandeln sie in irre teure Schutzräume, in denen man das Schlimmste überleben kann.« Sie wandte sich vom Lesegerät zu einem Computer, rief eine Suchmaschine auf und gab ›Raketensilo Eigenheim‹ ein.

Ein Mann in Texas hatte sich weit draußen in der leeren, kahlen Ödnis die ultimative Junggesellenbude eingerichtet, aber am verblüffendsten war ein Immobilienangebot in Montana, betitelt mit The Great Escape: fünfzehn unterirdische Etagen geistigen Friedens. Ein Untertitel, umzuckt von flackernden Blitzen, jubelte: Das Glück lacht nur dem gut vorbereiteten Geist.

Ich beugte mich über Cady Perecs Schulter. Die Webseite zeigte einen Längsschnitt des unterirdischen Raketensilos, fünfzehn Etagen mit Eigentumswohnungen und, noch tiefer unter der Erde, fünf Stockwerke mit Gebäudetechnik, Swimmingpools, Wasseraufbereitung, Luftfiltern und so weiter. Der Preis pro Wohneinheit begann bei anderthalb Millionen Dollar und beinhaltete auch einen Fünfjahresvorrat an gefriergetrockneter Nahrung. Der Silo verfügte über gewaltige Generatoren, massiv aufgerüstet seit der Zeit, in der sie bloß Interkontinentalraketen speisen mussten, die über den Pol nach Russland flogen. Es gab auch hochleistungsfähiges WLAN in der zuversichtlichen Annahme, das Internet würde nach Armageddon noch funktionieren. Plus freie Auswahl beim Blick aus dem Fenster - ein Computer lieferte Meerespanoramen oder Berglandschaften oder Weizenfelder, damit man nicht auf Betonwände starren musste. Ich fühlte mich, als krabbelten mir Spinnen an den Armen hoch: eingeschlossen unter der Erde, keinerlei Fluchtluke, mit ein paar Dutzend anderen aufs Ende der Welt warten, in Luxuswohneinheiten mit Granitarbeitsflächen, deutschen Spülmaschinen und Einbaukühlschränken sowie Surround-Sound, den Topkunden für ihr Zweitheim unverzichtbar finden. The Great Escape hatte bereits fünf Einheiten verkauft, dreizehn waren noch verfügbar, aber nicht mehr lange: Machen Sie noch heute einen Termin.

Die Slideshow auf dem Bildschirm zeigte eines Zeichners Vision des oberirdischen Äußeren mit Bäumen und einem Hubschrauberlandeplatz inmitten von Rosenbüschen. Ich fragte mich, ob der Plan auch Bunker für Scharfschützen vorsah, um die 99 Prozent der Bevölkerung abzuschießen, die dem nuklearen Winter zu entfliehen versuchten. »Soll das mit eurem Silo auch passieren, dem - wie hieß er noch?«

»Kanwaka. Indianischer Name«, sagte Cady Perec. »Es ist wie bei allem in Kansas. Es war indianisches Land, und wir haben es uns genommen und was Größeres und Besseres daraus gemacht - zum Beispiel riesige Raketenabschussrampen. Ich weiß nicht, was heute in Kanwaka los ist, aber irgendwann hieß es, dass es Unklarheiten um das Land gibt. Ein Makler hat wohl versucht, den Umbau in Eigentumswohnungen einzufädeln, aber das Geschäft ist geplatzt.«

»Damals bei den Protesten muss es doch irre Sicherheitsmaßnahmen gegeben haben«, sagte ich. »Haben die einfach irgendwo am Zaun campiert, oder gab es Hütten oder Wohnwagen?«

»Zelte auf dem Acker, so hat man es mir erzählt«, sagte Cady. »Es ist unheimlich schwer, jemanden zu finden, der sich konkret erinnert - also an Einzelheiten. Alle erinnern sich an die Proteste. Je nach politischer Haltung war es entweder ein wundervolles Beispiel für Graswurzelaktivismus oder ein grausiger Beleg für die Krawallbereitschaft des dummen Pöbels. Natürlich lange vor dem Smartphone, also hat niemand Fotos auf Instagram gepostet oder so. Und dann brannte zwei Monate nach dem Protest die Kommune nieder, also ist da draußen auch nichts mehr geblieben, was man sich ansehen könnte.«

»Brannte nieder?«, echote ich. »Wie das?«

Cady Perec zuckte mit einer Schulter. »Es heißt, die Hippies hätten wohl geraucht - damit meinen sie gekifft - und ein Lagerfeuer nicht im Blick behalten.« Sie drehte sich zum Mikrofilm-Lesegerät und fand den Artikel im Douglas County Herald.

Sara Paretsky:
Altlasten[1]
Aus dem Amerikanischen von Else Laudan & B. Szelinski
Ariadne Verlag, 544 S., geb., 24,00 €

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/shop/article/1461199