Vergessen ist ein Privileg

In der Coronakrise verdrängt die Mehrheit den Anschlag von Hanau, der heute gerade einmal zwei Monate her ist. Das ist ein Privileg von Menschen, die vom täglichen Rassismus nicht betroffen sind.

  • Mascha Malburg
  • Lesedauer: 2 Min.

Nur zwei Monate ist der Anschlag von Hanau her, bei dem ein Rassist zehn Menschen ermordete. Nur wenige Wochen sind vergangen, seit die Schwester eines Anschlagsopfers auf der Gedenkfeier mahnte: »Der Mensch vergisst schnell.« Googelt man heute Hanau, erscheinen Meldungen über Maskenpflicht und Coronafälle. Die neue Krise hat die alte verdrängt - zumindest im Diskurs der Mehrheitsgesellschaft.

Denn in migrantischen Communities ist nichts vergessen, zu viel ist passiert, was die Wunde immer wieder aufreißt: Da ist der Mord an dem kurdischen Jungen in Celle, oder die Schlagzeile der Bild, die behauptete, der Anschlag in Hanau habe kein rassistisches Motiv. Anfang der Woche ist die Bar, in der der Täter um sich schoss, mit Steinen beworfen worden, in Berlin und Darmstadt wurden Plakate mit Bildern der Opfer beschmiert.

Und die neue Krise? Verdrängt für die Betroffenen gar nichts, sie befeuert den Hass nur weiter: AfD-Politiker warnen im »Corona-Chaos« vor einem »historischen Dammbruch in Sachen illegaler Massenmigration«: Die Grenzen müssten geschlossen werden, um den Anstieg von Infektionskrankheiten zu verhindern, der seit der Flüchtlingskrise zu verzeichnen sei. In rechten Kreisen tummeln sich Verschwörungstheorien, die wahlweise Geflüchtete, »den Chinesen« oder »globale Eliten« zum Sündenbock für die »Seuche« machen. Die Pandemie schürt Rassismus und Antisemitismus, wie man es seit Jahrhunderten kennt. Auch hier zeigt sich wieder, wie schnell auf Worte Taten folgen. Unter #IchbinkeinVirus berichten Menschen asiatischer Herkunft von rassistischen Vorfällen seit Corona. Sie werden auf der Straße angepöbelt, beleidigt, mit Desinfektionsspray besprüht.

Derweil ist die Trauer um die Toten von Hanau nicht vorbei - und umso schwerer in Zeiten von Sicherheitsabständen und Kontaktbeschränkungen. Der 19. Februar war nicht verarbeitet, als die neue Krise kam, sagt Selma Yilmaz-Ilkhan, die die Familien der Opfer betreut. Im Interview mit der SZ mahnt sie, dass die Tat trotz Corona nicht vergessen wird. Und sie spricht aus, was in den vergangenen Wochen zu selten gesagt wird: »Viren sind ansteckend – Hass, Rechtsextremismus, Rassismus sind es aber leider auch.«

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