Aus der Krise lernen, was für ein gutes Leben nötig ist

Die Corona-Pandemie bietet die Chance, Aufwertung von Sorgearbeit neu zu diskutieren, meint Gabriele Winker

  • Lea Schönborn
  • Lesedauer: 4 Min.

Sie fordern schon seit sechs Jahren eine Care-Revolution. Was genau verstehen Sie darunter?

Im Netzwerk Care Revolution setzen wir uns dafür ein, dass für Sorgearbeit in Familien, in Krankenhäusern, Seniorenheimen, Kitas und Schulen mehr Zeit und Finanzen zur Verfügung gestellt werden. Wir treten für eine Gesellschaft ein, in der statt Kostensenkung und Profitmaximierung menschliche Bedürfnisse im Zentrum stehen, besonders die Sorge füreinander.

Was bedeutet das konkret?

Gerade weil Menschen - zum Glück - sehr unterschiedlich sind, unterscheiden sich auch ihre Bedürfnisse. Deswegen benötigen wir demokratische Strukturen, beispielsweise Care-Räte vor Ort, im Stadtteil oder Dorf. Dort können Menschen sagen, welche Form der Unterstützung sie bei der Betreuung ihrer Kinder oder bei der Pflege ihrer Angehörigen oder der eigenen Gesundheitsvorsorge benötigen. So lässt sich eine sehr vielfältige, staatlich geförderte soziale Infrastruktur mit Nachbarschaftszentren, Polikliniken oder Wohnprojekten aufbauen, über deren konkrete Ausprägung aber die Nutzer*innen entscheiden.

Welche Relevanz haben diese Ideen in Zeiten des Coronavirus?

In der Corona-Pandemie erfahren wir alle, wie stark wir von der Arbeit von Pflegekräften und Ärzt*innen abhäng sind. Außerdem wäre das gesamte System der Kontakteinschränkung ohne Eltern gar nicht aufrechtzuerhalten. Die meisten Eltern realisieren momentan eine Ganztagsbetreuung ihrer Kinder und häufig dazu im Homeoffice die eigene Berufstätigkeit. Sie sollen dabei auch noch eine gute Lehrerin, Hauswirtschafterin und Trösterin sein. Das führt häufig zu Überforderung, zeigt uns aber gleichzeitig, wie wichtig Lehrer*innen und Erzieher*innen sind.

Wen betrifft die Krise Ihrer Meinung nach am meisten?

Die derzeitige Krise trifft fast alle Menschen, auch wenn Reichtum durchaus besser vor den Folgen der Pandemie schützt. Besonders sind Arme und Schwache, Menschen ohne Wohnung, in beengten Wohnverhältnissen oder in Flüchtlingsunterkünften, aber auch Alleinerziehende betroffen. Darüber hinaus sind es die älteren und vorerkrankten Menschen, die einen besonderen Schutz vor diesem Virus brauchen.

Welche politischen Forderungen würden Sie aus diesen Befunden ableiten?

Wichtig wäre jetzt eine finanzielle Absicherung für alle. Das ließe sich mit der Einführung des von uns schon lange geforderten bedingungslosen Grundeinkommens erreichen und könnte zügig Wirkung zeigen.

Ferner sollten wir uns jetzt darauf verständigen, die Vollzeit-Erwerbsarbeit auf maximal 30 Wochenstunden zu begrenzen. Nur mit einer solchen kurzen Vollzeit bleibt Zeit für familiäre Sorge und auch für Muße. So könnten auch alle, die gerade ihren Job verlieren, schneller und besser eine neue berufliche Aufgabe finden. Gleichzeitig ist dies aus ökologischen Gründen ein Gebot der Stunde. Wir wären durch ein insgesamt verringertes Erwerbsarbeitsvolumen gezwungen, eine gesellschaftliche Debatte über den Stellenwert einzelner Wirtschaftsbereiche zu führen: Welche wollen wir zügig abbauen und welche Care-Bereiche entsprechend ausbauen?

Schon jetzt ist den meisten klar geworden, dass die öffentliche Daseinsvorsorge umfassend neu aufgestellt werden muss: In Zukunft sollen alle bedürftigen Menschen entsprechend ihren Wünschen Unterstützung erhalten, und zwar von Beschäftigten, die unter guten Arbeitsbedingungen tätig sein können. Das erfordert deutlich mehr Personal und auch erhöhte Gehälter für alle Care-Berufe, am besten über allgemeinverbindliche Tarifverträge.

Bietet die aktuelle Ausnahmesituation also Chancen, dass sich grundsätzlich etwas verändert?

Viele Menschen erfahren derzeit: Sich um nahestehende Menschen oder Nachbar*innen zu kümmern, ist sinnvoll und kann schön sein. Gleichzeitig ist es auch für die Gemeinschaft ein gutes Gefühl, durch solidarisches Handeln das Leben insbesondere von älteren und vorerkrankten Menschen schützen zu können.

Sie sagen auch, dass die Idee obsolet sei, bei Sorge würden die einen eine Leistung erbringen und die anderen eine empfangen. Warum?

Wir merken doch gerade während dieser Pandemie, dass das Dankeschön einer alten Dame, eines unterstützungsbedürftigen Herrn oder einer Familie in Quarantäne, denen wir etwas besorgen und anderweitig behilflich sind, dass all das gleichzeitig uns selbst guttut. Indem wir Bedürfnisse anderer befriedigen und sie uns ihre Freude zurückgeben, haben wir auch für uns gesorgt.

Werden wir aus diesen Erfahrungen lernen?

Nach Corona wird sehr vielen Menschen bewusst sein, was für ein gutes Leben wirklich nötig ist: Gesundheit, Pflege, Bildung und Erziehung - das sind entscheidende ökonomische Bereiche. Zugleich müssen zum Beispiel Konsumgüterproduktion und Individualverkehr deutlich reduziert werden, um nicht sofort in die nächste, mindestens ebenso verheerende Krise zu geraten: die ökologische. Insofern gibt uns die Verlangsamung des globalisierten Wirtschaftens die Chance, uns über Wege in eine solidarische Gesellschaft auszutauschen: Statt uns weiter an profitorientiertem Wachstum und Konkurrenz auszurichten, können wir beginnen, das Zusammenleben ausgehend von menschlichen Bedürfnissen zu gestalten.

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