nd-aktuell.de / 22.04.2020 / Berlin / Seite 9

Mehr als Händewaschen

Jetzt erst recht: Worum es bei der vielzitierten Solidarität in der Coronakrise gehen muss

Claudia Krieg

»Die Menschen brauchen jetzt nicht nur Plattformen, um sich zu vernetzen, sondern vor allem konkrete Unterstützung«, sagt Clara Schumann vom Bündnis »Jetzt erst recht« zu »nd«. Die 30-Jährige studierte Ökonomin, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, engagiert sich seit mehreren Jahren in linken, selbstorganisierten Gruppen in Berlin.

Um zu diskutieren, was die Pandemie für ihre politische Arbeit bedeutet, haben sich 13 unterschiedliche soziale Initiativen der Hauptstadt Mitte März zusammengeschlossen - darunter die Erwerbsloseninitiative BASTA, das »Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus«, aber auch Gruppen wie »Deutsche Wohnen & Co Enteignen« und das »Bündnis Zwangsräumung verhindern!«

Man habe gemeinsam festgestellt, erzählt Schumann, dass die Unterstützung zur Bewältigung der Krise ungleich verteilt werde: »Es war schnell zu erkennen, wer die Zuschüsse bekommt - vor allem große Unternehmen.« Das Kurzarbeitergeld entlaste diese zudem bei den Lohnkosten für die Beschäftigten, aber für viele Arbeiter*innen reiche es nicht aus zum Leben. »Wir diskutierten diese Ungerechtigkeit genauso wie die Frage, warum hier in Berlin nicht einmal 50 Leute unter der Einhaltung des Abstandsgebots demonstrieren dürfen, aber im griechischen Flüchtlingslager Moria 20 000 Menschen zusammengepfercht leben müssen«, berichtet Schumann über die Entstehung von »Jetzt erst recht«. Die Krise, so die junge Frau, offenbare noch einmal deutlicher, dass es den meisten politisch Verantwortlichen nicht um die Gesundheit von Marginalisierten gehe.

Am vergangenen Wochenende hat das Bündnis auf der Homepage mit demselben Namen nun einen Forderungskatalog vorgestellt, in dem andere Maßnahmen im Vordergrund stehen als jene, die die Gesellschaft zur Eindämmung der Pandemie seit Wochen vorgelegt bekommt und in großen Teilen auch akzeptiert: Abstandsgebot, Schließungen, Hygieneregeln.

Worum es eben auch gehen muss, findet sich auf der Seite unterteilt in sechs Bereiche: »Wir brauchen jetzt ein besser ausgestattetes Gesundheitssystem, eine wirtschaftliche Absicherung und sichere Unterkünfte für alle, Hilfe für Menschen auf der Flucht und Hilfe für Arbeiter*innen«, erklärt es Clara Schumann. Darüber hinaus müsse es soziale Absicherungen für die Zeit nach der akuten Krise geben.

Schumann und ihre Mitstreiter*innen beschäftigen Fragen, die viele Menschen umtreiben: Wie lange dauert der Ausnahmezustand an? Wie soll man unter repressiven Maßnahmen dagegen demonstrieren, dass die erwartete wirtschaftliche Rezession zulasten derjenigen geht, die ohnehin schon wenig haben? Und warum kümmern sich die, die wenig haben, um andere, die wenig haben, und nicht der Staat um alle?

Solidarität ist mehr als Händewaschen. Das Motto der Kampagne trifft den Nagel auf den Kopf. Was seit Anfang April unter dem Stichwort Solidarität durch die Öffentlichkeit geistert, hat mit einer solidarischen Gesellschaft nämlich nicht so viel zu tun.

»Für Menschen einkaufen gehen, die das gerade selbst nicht können - ist das nicht etwas Selbstverständliches?«, fragt Schumann. Dies sei doch keine »krasse Solidarität«. Es gehe hier schließlich um einen Sinn für Gemeinschaft, den es immer brauche, findet sie. Und auch wenn die vergangenen Wochen und kommenden Monate eine Umbruchzeit darstellen: »Sie bieten ein Zeitfenster, politischen Druck aufzubauen und Veränderungen umzusetzen, die für lange Zeit nicht möglich schienen.« Das könne man zum Beispiel daran sehen, dass nun in Berlin auch Menschen ohne Krankenversicherung zum Arzt gehen dürften.

Ob die lokalen Politiker*innen es ähnlich sehen wie die außerparlamentarisch Aktiven von »Jetzt erst recht«, bleibt allerdings abzuwarten.

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