Weißwein und Hunger

Im Nach-Apartheid-Staat Südafrika vertieft die Ausgangssperre die Spaltung der Gesellschaft

  • Christian Selz, Kapstadt
  • Lesedauer: 7 Min.

Der perfekte englische Rasen des Grünstreifens vor den eleganten Anwesen im Kapstädter Vorort Claremont ist ein Stückchen länger als gewöhnlich, ihre Campingstühle haben die Bewohner aber ohnehin direkt auf den Asphalt der ruhigen Seitenstraße gestellt. Es ist ein sonniger Samstagnachmittag, Tag 23 des Lockdowns in Südafrika, gerade hat sich die Sonne hinter das hoch aufragende Massiv des Tafelbergs zurückgezogen. Die warme Spätsommerluft hängt noch zwischen den knorrigen Alleebäumen des paradiesisch grünen Viertels. Zwei Paare, Mitte 40, sitzen sich in coronasicherem Abstand gegenüber, je eine Flasche Weißwein griffbereit. Ein Gläschen in Ehren. Etwas schmunzeln müssen die Beteiligten dann doch, so wie kleine Kinder es tun, wenn sie bei einer nicht wirklich schlimmen Missetat ertappt werden. Eine Ecke weiter spaziert eine Familie, zwei Sprösslinge, drei Hunde, leicht verstohlen dreinblickend durch die ansonsten menschenleere Vorstadtidylle. Ganz legal ist derzeit beides nicht.

Trinkrunden und Gassi gehen hatte der exzentrische Polizeiminister Bheki Cele mit Beginn der Ausgangssperre ausdrücklich verboten. Vor die Tür dürfen die Südafrikaner lediglich zum Einkaufen und für Arztbesuche. Selbst in den Supermärkten herrscht ein strenges Regime, verkauft werden nur Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs. Alkohol und Zigaretten sind tabu. Die großen Augen der fürs Ostergeschäft bereits ausgelegten Kuscheltiere schauen seit Wochen nur noch traurig hinter Absperrband aus dem Regal hervor. Lediglich bei Säuglingsbekleidung hat die Regierung nach drei Wochen eine gnädige Ausnahme gemacht.

Cele, ein 68-jähriger Liebhaber ausgefallener Hutmoden, der in seiner vorherigen Funktion als Polizeichef sowohl durch die Parole »Bauch rein, Brust raus« als auch den Befehl »Schießen, um zu töten« berühmt und berüchtigt wurde, war zwischenzeitlich wegen Korruptionsvorwürfen für einige Jahre kaltgestellt. In Zeiten Coronas erlebt er nun seinen zweiten Frühling. Die öffentliche Einlassung des Gesundheitsministers Zweli Mkhize, seines Zeichens Arzt, wonach individueller Sport und Spaziergänge im Freien unbedenklich seien, wies Cele, ausgebildeter Lehrer, umgehend barsch zurück. In öffentlichen Statements zelebriert er seitdem regelmäßig die Umsetzung seiner Polizeistaatsfantasien.

Für die mit üppigen Anwesen gesegnete Oberschicht, in deren gut gefüllte Weinregale Celes langer Arm nicht reicht, ist die wohl härteste Ausgangssperre der Welt offensichtlich noch recht erträglich. Aus den Vierteln der Armen kommen andere Bilder. Die Menschen schienen sich »wie Ebbe und Flut« um die Soldaten herum zu bewegen, die die Einhaltung des Lockdowns überwachen sollten, berichtete der Afrika-Korrespondent des britischen Nachrichtensenders Sky News, John Sparks, am 11. April aus dem Johannesburger Township Alexandra. Sein TV-Team filmte, wie ein Soldat ohne Vorwarnung auf einen Anwohner einschlug und -trat.

Gewalt gegen die Armen schilderte auch bereits tags zuvor der Reporter Jacques Marais für das südafrikanische Nachrichtenportal Daily Maverick bei seinen Beobachtungen im Kapstädter Township Masiphumele. Mit einem Casspir, jenem monströsen, gepanzerten Truppentransporter aus dunkelsten Apartheid-Zeiten, sowie einem Dutzend Polizeifahrzeugen waren die Sicherheitskräfte in die Armensiedlung geprescht. Dort angekommen, hätten sie umgehend Passanten attackiert. »Die Aggression ist unkontrolliert und, soweit ich sehen kann, völlig grundlos«, schreibt Marais. »Verpiss dich einfach«, hätte ihn ein Polizist angebellt. Als Marais, der eine Presse-Weste trug, seine Akkreditierung aus dem Auto holen wollte, schlugen ihm Einsatzkräfte die Tür in den Rücken. Mit meterlangen Knüppeln machten sie ihm deutlich, wer in Zeiten des Lockdowns das letzte Wort hat. Marais’ Bericht zufolge lautete es: »Verpiss dich, oder du wirst hier heute sterben!«

Dutzende offizielle Beschwerden gegen Einsatzkräfte zeigen, dass Polizeigewalt an der Tagesordnung ist. Allein in den ersten drei Tagen des Lockdowns starben drei Menschen durch Polizeigewalt, inzwischen sind es mindestens neun Opfer. Ein weiterer Mann wurde auf seinem eigenen Grundstück von Soldaten erschlagen. In sozialen Netzwerken kursieren unzählige Videos, die brutale Gewalt und entwürdigende Maßnahmen zeigen, mit denen Polizisten und Soldaten Menschen quälen. Nahezu ausnahmslos wurden die Aufnahmen in Armensiedlungen gemacht.

Südafrika ist das Land mit der weltweit krassesten Ungleichverteilung von Reichtum, und der Lockdown verschärft die Gegensätze noch einmal deutlich. In den Wellblechhüttensiedlungen, wo durchschnittlich sieben Menschen in einem Haushalt auf engstem Raum zusammenleben, ist die Parole »Bleib zu Hause, rette Leben« kaum mehr als ein zynischer PR-Spruch aus einer anderen Welt. Zumal der Lockdown hier nicht nur Leben schützt, sondern auch das Überleben bedroht. Sozialleistungen gibt es in Südafrika nur für Kinder, Rentner und Invaliden. Zwar gibt es eine Arbeitslosenversicherung, die nun auch für Beschäftigte greifen soll, die aufgrund der Coronakrise entlassen wurden, doch sie springt maximal für ein Jahr ein. Wer schon länger arbeitslos ist oder wie mindestens die Hälfte aller heutigen Schulabgänger nie einen Job hatte, der bekommt keinen Cent.

Bereits vor Beginn der Corona-Pandemie lag die erweiterte offizielle Arbeitslosenquote in Südafrika bei über 40 Prozent. Die Armen schlagen sich in »normalen Zeiten« als unregistrierte Tagelöhner, als Gärtner, Hilfsarbeiter und Hausangestellte bei den Reichen oder als informelle Straßenhändler durch. Das verdiente Geld reicht dabei oft kaum für das Essen des nächsten Tages - und nun sind unter den Lockdown-Regularien selbst diese Einkommensquellen nahezu versiegt. Eine zur Entlastung von Familien angedachte Erhöhung des Kindergeldes von derzeit umgerechnet etwa 22 Euro monatlich auf 47 Euro, begrenzt auf die nächsten sechs Monate, scheiterte am Veto von Finanzminister Tito Mboweni.

Einen flächendeckenden Ersatz für die Schulspeisung, bis zu den Schulschließungen für viele arme Kinder die einzige warme Mahlzeit am Tag, gibt es nicht. Da in den ersten Tagen des Lockdowns selbst informelle Essenshändler und kleine Versorgungsläden in den Armenvierteln geschlossen wurden - inzwischen dürfen immerhin jene wieder öffnen, die sich vorab registriert hatten -, warnte das Institute for Poverty, Land and Agrarian Studies (PLAAS) an der Kapstädter University of the Western Cape bereits am 1. April vor ernsten Versorgungsengpässen. Erste Konsequenzen zeigten sich schnell: Die wenigen Supermärkte in den Armenvierteln erlebten einen regelrechten Ansturm; bereits am zweiten Tag des Lockdowns setzten Einsatzkräfte in Johannesburg Hartgummigeschosse gegen Menschen ein, die zum Einkaufen in langen Schlangen anstanden.

»Wenn die Menschen kein Essen bekommen, werden gewaltsame Konflikte wahrscheinlich, weitverbreitete Plünderungen eingeschlossen«, warnte das PLAAS bereits damals. Inzwischen sind die Befürchtungen Realität geworden, in etlichen Townships kam es bereits zu Plünderungen von Supermärkten. Die Furcht vor dem Coronavirus, das im Land bisher bei 3465 Infizierten nachgewiesen wurde, von denen 58 starben, weicht allmählich einer größeren Sorge. »Die größte Lockdownbedrohung: Hunger, Hunger, überall«, titelte die Zeitung »Daily Maverick« am 17. April.

Gelindert wird die Situation von unzähligen kleinen Hilfsorganisationen, die Essenspakete in Armenvierteln verteilen. Die staatlichen Hilfen sind derweil vollkommen unzureichend. Das Sozialministerium der Hauptstadtprovinz Gauteng rühmte sich in der vergangenen Woche allen Ernstes in einer Pressemitteilung damit, 20 000 Essenspakete verteilt zu haben - bei einer Bevölkerung von über 12 Millionen Menschen und bereits in Vor-Pandemie-Zeiten etwa 200 000 registrierten Bedürftigen. Zwar vermeldete die Behörde an diesem Montag, nun bereits 120 000 Menschen mit Essenspaketen beliefert zu haben, doch ausreichend ist auch das nicht. Der »Daily Maverick« zitierte am Freitag einen Experten des Johannesburger Gordon Institute of Business Science (GIBS), demzufolge die Sozialbehörden derzeit über Kapazitäten verfügen, um 300 000 Bedürftige zu versorgen. Prognostiziert wird jedoch, dass bereits im Mai 3,2 Millionen Menschen auf Lebensmittelhilfen angewiesenen sein könnten.

Staatspräsident Cyril Ramaphosa verurteilte derweil Fälle von Unterschlagung von Lebensmittelhilfen durch korrupte Staatsbedienstete, in Kapstadt wurden zwei Lastwagen mit Essenslieferungen auf offener Straße überfallen und ausgeraubt. Am Dienstagabend kündigte Ramaphosa dann per Fernsehansprache ein Rettungspaket in Höhe von 500 Milliarden Rand (24,4 Milliarden Euro) an. Neben Hilfen für Unternehmen und Beschäftigte ist darin nun auch an die Ärmsten gedacht: So sollen Arbeitslose ab Mai monatlich 350 Rand (17 Euro) bekommen, das Kindergeld von derzeit 22 Euro wird im Mai um 14,60 Euro aufgestockt, ab Juni sogar um 24,40, Sozial- und Invalidenrenten steigen um 12,20 Euro monatlich, alle Erhöhungen sind begrenzt bis Oktober.

Der am 27. März verhängte Lockdown soll trotz aller Widrigkeiten bis zum 30. April fortgesetzt werden. Erste Lockerungen gibt es aber bereits - jedoch nicht für die Armen, sondern für Bergbaukonzerne. Die dürfen unter Einhaltung von Gesundheitsvorschriften seit dem vergangenen Donnerstag wieder 50 Prozent ihrer Kumpel unter Tage schicken, der Personaleinsatz soll zudem schrittweise weiter hochgefahren werden. Manche Betriebe hatten dank ministerieller Ausnahmegenehmigungen ohnehin nie geschlossen. Neben einigen für die Stromversorgung benötigten Kohlegruben zählt dazu auch ein Eisenerztagebau des Branchenriesen Anglo American, der weiterfördern durfte, weil sonst laut offizieller Begründung der Verlust von Weltmarktanteilen drohe. Profiteure und Leidtragende bleiben in der am stärksten gespaltenen Gesellschaft der Welt auch in Corona-Zeiten dieselben.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal