Trügerische Zufriedenheit

Vor 30 Jahren begannen die deutsch-deutschen Verhandlungen über eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion

  • Jörg Roesler
  • Lesedauer: 4 Min.

Am 25. April 1990 konnte man es in allen Zeitungen lesen: Bundeskanzler Helmut Kohl und DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière hatten sich bei ihrem Treffen in Bonn auf eine Währungsunion zwischen der DDR und der BRD geeinigt. Sie sollte am 1. Juli in Kraft treten. Die Konditionen im Detail seien noch auszuhandeln, hieß es. Zwei Tage später begannen die entsprechenden Verhandlungen, ebenfalls in Bonn.

Der Regierungschef der DDR zeigte sich zufrieden mit dem Gang der Dinge. In seiner Regierungserklärung eine Woche zuvor hatte er, für alle DDR-Bürger sprechend, deklariert: »Wir wollen arbeiten, leben und wohnen in einer Marktwirtschaft. Die Einheit muss so schnell wie möglich kommen.« Gegen die Forderung der Bundesbank nach einem generellen 2:1-Umtausch, der eine Abwertung der Einkommen und Ersparnisse der DDR-Bürger bedeutet hätte, hatte er sich immerhin erfolgreich gewehrt. Mit Kohl vereinbarte er bei Löhnen, Gehältern, Renten und bei Bargeld bzw. Guthaben bis zu einem Höchstbetrag von 4000 DDR-Mark einen Pro-Kopf-Umtausch von 1:1. Zufrieden war auch der Bundeskanzler - vor allem hinsichtlich des frühen Datums für die De-facto-Wirtschaftsintegration der DDR als Startschuss für die Art der Wiedervereinigung, wie er sie sich wünschte, woraus er seit Dezember 1989 keinen Hehl machte: Eingliederung der DDR in die Bundesrepublik so rasch wie möglich.

Unzufrieden dagegen war de Maizières Vorgänger im Amt, Hans Modrow. Er hatte im Januar 1990 seiner Regierung der Nationalen Verantwortung Vorstellungen über Ziele, Grundrichtung und Etappen der als notwendig erachteten marktwirtschaftlichen Transformation der DDR vorgestellt. Diese sollte, so seine Wirtschaftsministerin Christa Luft, »in einem noch für mehrere Jahre politisch souveränen und ökonomisch selbstständigen Staat DDR erfolgen und - bei Nutzung von Erfahrungen der BRD - eigenständig gestaltet werden«.

Unzufrieden mit Richtung und Tempo der von Kohl und de Maizière seit der zweiten Aprilhälfte betriebenen Verhandlungen für eine Wirtschafts- und Währungsunion war auch Dr. Günter Storch. Der Finanzwissenschaftler, Mitglied des Direktoriums der Deutschen Bundesbank, hatte im Dezember 1989, als die öffentliche Diskussion um eine Wirtschaftsreform in der DDR mit Ausblick auf die Vereinigung begann, in einer Denkschrift die »vollständige Liberalisierung der DDR-Wirtschaft in einem Schritt« abgelehnt. Die sei »vom Konzept her zwar bestechend, doch dürften mit einer schockartigen Anpassung beträchtliche Übergangsprobleme wie Arbeitslosigkeit, Unternehmenszusammenbrüche verbunden sein«. Der Übergang zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung in der DDR, schlussfolgerte Storch, werde »deshalb nur schrittweise vorgenommen werden können, um soziale Härten möglichst gering zu halten. Die Initiative sollte zudem von der DDR kommen, schon um den Eindruck der Bevormundung durch die Bundesrepublik zu vermeiden.«

Mit seiner Meinung stand Storch keineswegs allein. Ronald Götz-Coenenberg vom Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien warnte: »Die Einheitswährung wird bedeuten, dass ein großer Teil der DDR-Produktion nicht konkurrenzfähig ist.« Auch Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl äußerte im DDR-Fernsehen Anfang Februar 1990 hinsichtlich Kohls enger Zeitvorgaben: »Über Zeitpunkt und Umtauschsatz kann erst nach gründlicher Prüfung entschieden werden.« Kohl ignorierte die Warnungen der bundesdeutschen Fachwelt. Auf das für seine Pläne günstige Wahlergebnis der »Allianz für Deutschland« vom 18. März 1990 verweisend, ließ er wissen, die Ostdeutschen wollten ein »wiedervereinigtes Deutschland« und und die D-Mark. Und sie wollten tatsächlich eine rasche Entscheidung, zumal Kohl ihnen »blühende Landschaften« versprach.

Hätten sich aber mit der von ostdeutschen Politikern wie Modrow und Luft ins Auge gefassten und westdeutschen Wirtschaftsfachleuten wie Storch, Götz-Coenenberg und Pöhl empfohlenen behutsamen Art und Weise der Einführung der Marktwirtschaft tatsächlich größere Schäden für die DDR vermeiden lassen? Musste der Ad-hoc-Übergang von einem Wirtschaftssystem zum anderen nicht zwangsläufig zu tiefen wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen im vom Systemwechsel betroffenen Land führen?

Eine nicht spekulative Antwort wäre möglich, wenn es einen vergleichbaren Fall gäbe. Und den gibt es tatsächlich: 1984 einigten sich die von Deng Xiaoping regierte Volksrepublik China und Großbritannien auf Verhandlungen zur Wiedereingliederung von Hongkong, seit 1841 britische Kronkolonie, in die chinesische Gesellschaft als Sonderverwaltungszone. Das 1990 verabschiedete »Grundgesetz für Hongkong« sah einen Wandel über mehrere Jahrzehnte vor, gemäß der von Deng verkündeten Formel »Ein Land - zwei Systeme«, von den Inselbewohnern selbst bestimmt. Anders als im Falle der DDR war das Ergebnis für Hongkongs wirtschaftliche und soziale Entwicklung positiv. Die Hongkonger waren generell zufrieden - bis Dengs Nachfolger Xi Jing Ping sich nach 2012 nicht mehr an die Vertragsgrundsätze hielt.

Die in den ersten anderthalb Jahrzehnten nach der deutschen Vereinigung erzielten Ergebnisse bestätigten die Position von Modrow, Luft und deren Mitstreitern und die Warnungen westdeutscher Spezialisten. Das von de Maizière bei seiner Amtseinführung kurz vor der Aufnahme der deutsch-deutschen Vereinigungsverhandlungen gegebene Versprechen, »dass die DDR-Bürger nicht das Gefühl bekommen, zweitklassige Bundesbürger zu werden«, hätte verwirklicht werden können.

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