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Das kann man nicht vergessen

Stella Nikiforova-Kugelmann - ein Kinderschicksal im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück

  • Bärbel Schindler-Saefkow
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Stunde der Befreiung schlug für sie Ende April 1945 während des »Todesmarsches«. Und kam über das kleine fünfjährige Mädchen aus dem belgischen Antwerpen zunächst als tödliche Bedrohung. Sie wäre beinahe noch einem Fliegerangriff zum Opfer gefallen. Seit Dezember 1943 befand sich die kleine Stella mit ihrer Mutter im Lager Ravensbrück. Die Mutter war eines Tages verschwunden. Stella wusste nicht warum oder wohin. Eineinhalb Jahre lief sie im wahrsten Sinne mutterseelenallein über die Lagerstraße, fand aber neue Mütter, Lagermütter unterschiedlicher Nationalitäten.

Über 132 000 Frauen und Kinder aus 40 Nationen durchlitten dieses einzige, spezielle Frauenkonzentrationslager der deutschen Faschisten, 28 000 Menschen starben in Ravensbrück. Als die Rote Armee die Oder überschritt, begann die SS am 27. April 1945 mit der »Evakuierung« des Lagers, trieb die Häftlinge gen Westen; dabei starben noch einmal Tausende der entkräfteten, erschöpften, gepeinigten Menschen. In Stellas Treck befanden sich zehn Kinder auf einem Wägelchen, als sie auf Rotarmisten trafen. Stella und ihrer etwas älteren belorussischen Gefährtin Nina nahm sich die Häftlingsfrau Olympiada Alekseewna Tscherkassova an. Sie sorgte dafür, dass die beiden in Russland eine neue Heimat fanden, gab sie in ein Kinderheim für Kriegswaisen in Brjansk.

Der Name des deutschen Ortes Ravensbrück blieb Stella Kugelmann in Erinnerung - ein Schlüssel, um nach ihrer Identität zu forschen. Sie wusste nicht, wer sie war und woher sie stammte. Als Jugendliche klärten ehemalige sowjetische Häftlingsfrauen anderer Nationalitäten sie auf, halfen ihr bei der Suche nach ihrer Familie. Sie erfuhr von ihrer Geburtsurkunde und von ihren Eltern. Es gelang sogar, ihren Vater ausfindig zu machen, der das KZ Buchenwald überlebt hatte, nach der Befreiung nichts über den Verbleib von Frau und Kind hatte in Erfahrung bringen können und daraufhin nach Brasilien übergesiedelt war. Sie besuchte ihn dort, kehrte aber in die Sowjetunion zurück, wo sie erwachsen geworden war, die Schule besucht hatte und in einem Museum arbeitete.

Stella Kugelmann lernte die Ravensbrück-Ärztin und Schriftstellerin Antonina Nikiforova kennen - und deren Sohn lieben. Die beiden heirateten in Leningrad. Das Paar bekam zwei Kinder, die Stella das gaben, was sie selbst in ihrer frühen Kindheit so schmerzlich vermisst hatte: Gemeinsamkeit in einer Familie, höchstes Glück.

Angeregt und unterstützt von ihrer Schwiegermutter trat Stella dann selbst als Zeitzeugin auf, führte umfangreiche Korrespondenzen mit Menschen, die sich für ihr Schicksal interessierten. Sie vermittelte Jugendlichen ihre Erlebnisse unterm Hakenkreuz sowie die Erfahrungen der älteren Ravensbrückerinnen, die sie ebenfalls als ihre Familie ansieht. Vor allem das Schicksal der Kinderhäftlinge wurden ihr Lebensthema, das sie in Büchern und Gedichten für die Nachwelt festhält. »Die Kinder … was hatten sie sich nach Meinung der Nazis zu Schulden kommen lassen? Was haben sie getan? Wofür hat man sie ins Lager eingesperrt? Wofür?«, fragt sie sich selbst immer wieder. Und generell: »Woran dachten die Menschen, die hinter den Mauern und Stacheldraht eingesperrt waren? Wovon haben sie geträumt? Worauf hofften sie?« Stella Kugelmann weiß: »Nein, sie haben nicht darauf gewartet, ob sie befreit werden oder sie die Stunde der Befreiung nicht mehr erleben werden. Sie haben unter den unerträglichsten, unmenschlichsten Bedingungen gehandelt. Sie haben einander geholfen, sich bemüht, vor allem diejenigen zu unterstützen, die vom Tode am meisten bedroht waren. Sie unternahmen alles Mögliche, um die Kinder zu retten. Wir Kinder, die wir Ravensbrück überlebten, verdanken dies mutigen Frauen mit einem guten, mütterlichen Herz.«

Stella Nikiforova-Kugelmann erzählt, dass sie von einer deutschen Ravensbrückerin erfuhr, wie ihre Mutter starb. Klara teilte ihr eines Tages mit: »Stella, deine Mutter wurde verbrannt.« Die Veteranin erinnert sich: »Diese Nachricht nahm ich ganz ruhig auf. Ich konnte den Inhalt dieser Worte nicht begreifen. Ich war als Kind zwar ganz sicher gewesen, dass meine Mutter mich nicht verlassen hat, ihr also etwas passiert sein musste. Was allerdings ›verbrannt‹ bedeutete, begann ich erst später zu begreifen - als ich als Siebenjährige in die Flamme eines Ofens blickte.«

Stella Nikiforova-Kugelmann kann dieses Jahr nicht wie in den Jahren zuvor nach Ravensbrück reisen, um der ermordeten Leidensgefährten zu gedenken. Das schmerzt sie umso mehr, da faschistisches Gedankengut, Rassismus und Antisemitismus überall in Europa wieder aufflammen. »Uns Kriegskindern sagt man oft: Wozu an das Vergangene erinnern? Und was wisst ihr eigentlich, die ihr damals Kinder wart?« Stella empört solche Art Geschichtsvergessenheit, Geschichtsverdrängung. Sie hat am eigenen Leib Hunger, Kälte und Terror erfahren, den Tod erlebt. »Das Schrecklichste für ein Kind ist, dass es dies alles, was ihm angetan wird und was um es herum geschieht, nicht verstehen kann. Weshalb muss es leiden? Weshalb wurde ihm die Mutter genommen? Warum wird es angeschrien oder geschlagen?« Stella denkt dabei auch an Kinder, die heute weltweit hungern, frieren, unter Bomben leiden, ihre Eltern in Bürgerkriegen verloren haben oder auf der Flucht sind.

»Vergessen? Wenn das nur möglich wäre«, sagte sie vor zwei Jahren in ihrer Rede in Ravensbrück zum Jahrestag der Befreiung des Lagers. »Das Erlittene sitzt in jedem von uns, und die Erinnerungen steigen unwillkürlich und gegen unseren Willen immer wieder auf. Man träumt davon oder erinnert sich auf andere Weise daran. Ich fürchte mich bis heute vor Schäferhunden. Mir wird eiskalt, wenn ich ihnen begegne. Und lange habe ich mich vor einer Dusche gefürchtet. Das Lager liegt noch heute wie ein Schatten über unserem Leben.«

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