Es droht ein Angriff auf die 99 Prozent

Simon Poelchau glaubt, dass mit der Wirtschaftskrise die Widersprüche des Kapitalismus wieder offener zu Tage treten

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 4 Min.

Zugegeben: Das Wort Bruttoinlandsprodukt hört sich erst mal nicht so aufregend an. Und setzt man noch das Wort Wachstumsrate dahinter, also spricht man von der Bruttoninlandsproduktwachstumsrate, sind einem in linken Zusammenhängen viele Gähner sicher. Denn lange waren wirtschaftliche Belange in der Linken eher ein Randthema. Andere Themen waren drängender. Schließlich treten die Widersprüche des Kapitalismus in Zeiten des Aufschwungs nicht so offen zutage, Verteilungskämpfe sind weniger akut. Doch mittlerweile sollte dem letzten Linken klar sein, dass sich das mit der Coronakrise geändert hat. Ja, vor allem Linke sollten jetzt beunruhigt sein, wenn diese Bruttoinlandsproduktwachstumsrate wegen des Corona-Lockdowns steil nach unten zeigt, und der IWF vor einer Krise warnt, wie sie die Welt seit 100 Jahren nicht mehr gesehen hat.

Natürlich richtet erst mal das Virus einen massiven Schaden an. Und zwar einen, bei dem es nicht nur um Wirtschaftswachstum, sondern um Menschenleben geht. Und der Lockdown ist dazu da, diesen zu minimieren. Auch kann man, wie es die Postwachstumsbewegung tut, die Maxime des ewigen Wachstums infrage stellen, da dieser auch auf der Zerstörung der Umwelt beruht.

Doch ist dies eine Perspektive, die man sich in seiner Altbauwohnung mit Balkon erst mal leisten können muss. Immer wieder hört man von Prekarisierten überall auf der Welt, dass sie sich das Virus nicht leisten könnten, dass sie trotz Angst vor Ansteckung arbeiten gehen, weil sie nicht wissen, wovon sie sonst leben sollen. Deren ökonomische Lage wird sich durch die anrollende Rezession weiter verschlechtern. Und auch die hiesige Mittelschicht wird deren Folgen zu spüren bekommen.

Denn wenn das Wachstum stockt, verwandeln sich die Gewinne in Verluste. Und die Gewinne versuchen sich die Unternehmen wieder zurückzuholen, indem sie bei den Angestellten sparen. Dies ist keineswegs eine neue, sondern eine ziemlich alte Erkenntnis. Schon Karl Marx schrieb, dass die Unternehmer, was ihren Profit angeht, »einen wahren Freimaurerbund bilden gegenüber der Gesamtheit der Arbeiterklasse«. Dabei sind die Angriffe unterschiedlicher Natur, die Stoßrichtung verfolgt aber immer dasselbe Prinzip, nämlich die unteren 99 Prozent für die Krise zahlen zu lassen, um einen Begriff aus der Finanzkrise 2007/8 wiederzuverwenden.

Derzeit versuchen die Unternehmen zwar noch mit weniger harten Maßnahmen an ihrem »Humankapital« zu sparen, während in den USA bereits millionenfach Menschen ins Nichts entlassen wurden. Meistens drücken die Firmen hierzulande die Lohnkosten, indem sie die Angestellten, für die sie wegen der Krise keine Verwendung haben, in Kurzarbeit schicken. Das Gehalt wird dann von der Bundesagentur für Arbeit, also der Allgemeinheit, gezahlt. Dabei müssen die Beschäftigten massive Einkommensbußen hinnehmen. Doch auch härtere Maßnahmen wie Massenentlassungen kündigen sich an.

Dabei läuft auf der politischen Ebene der Verteilungskampf bereits an. Als es etwa um die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes ging, das den geparkten Angestellten zugutekommt, stellte sich die Wirtschaftslobby dagegen. Die Bundesregierung würde »mit der Gießkanne« Geld ausgeben, wetterte etwa Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer. Dies befeuere »Erwartungshaltungen an den Sozialstaat, die ihn langfristig finanziell völlig überfordern werden«. Einen Monat zuvor lobte er noch Schwarz-Rot für die Verabschiedung des Hilfspaketes, das vor allem Unternehmen zugutekommt: »Was jetzt auf den Weg gebracht wurde, ist ein gewaltiges und sehr zielführendes Hilfspaket.«

Dies führt wiederum zu einer anderen, für die 99 Prozent entscheidende Frage: Wer das 1,2 Billionen Euro schwere Hilfspaket bezahlen soll. Noch ist das eher in der Ferne, da es sich dabei vornehmlich um Kreditbürgschaften und neue Schulden handelt. Irgendwann müssen aber die Schulden zurückgezahlt werden. Und solange nicht erstritten wird, dass dies etwa über eine Vermögensabgabe und höhere Steuern für Reiche finanziert wird, ist klar, dass dafür bei der öffentlichen Infrastruktur und Sozialausgaben gespart wird. So wird die Grundrente bereits wieder infrage gestellt.

Es ist also gar nicht so unwahrscheinlich, dass die unteren 99 Prozent mal wieder für die Krise zahlen sollen. Und insofern sollte kein Linker gähnen, wenn er das Wort Bruttoninlandsproduktwachstumsrate hört, sondern lieber sehr hellhörig werden. Denn was ansteht, sind härtere Verteilungskämpfe.

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