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Blackbox Stolpe-Süd

Flüchtlingsunterkunft in Brandenburg seit Wochen unter Quarantäne - und die 400 Bewohner ohne Informationen

  • Dinah Rothenberg und Alexandra Kimel
  • Lesedauer: 6 Min.

Pierre Sonkeng Tegouffo macht für den Flüchtlingsrat Brandenburg normalerweise Arbeitsmarktberatung. Er ist grade im Homeoffice, als sein Telefon klingelt - und lange nicht mehr still stehen wird. Bewohner*innen der Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge Stolpe-Süd rufen ihn an, da er Französisch spricht. Sie haben Angst. Es ist Donnerstag, der 16. April 2020, eine Reinigungskraft wurde positiv auf Covid-19 getestet. Sonkeng Tegouffo beginnt, Informationen zu sammeln, und versucht zu beruhigen: »Am Anfang musste ich den Psychologen spielen. Es war so ein Chaos, weil es keine Informationen gab«, erinnert er sich.

Innerhalb von Stunden ist die Unterkunft mit über 400 Personen isoliert. Niemand darf das Gelände verlassen. Bewohner*innen versuchen, Personen draußen zu erreichen, um noch an Lebensmittel zu kommen. Zu diesem Zeitpunkt kommt auch John, der seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will, zurück in die Unterkunft. Er wird nach Symptomen gefragt und über die Ausgangssperre informiert. Er lebt hier seit vier Jahren. Erste Tests erfolgen am Nachmittag.

Infizierte und Nichtinfizierte sind in einem Raum untergebracht

Am Sonntagabend bekommen die ersten Bewohner*innen dann Anrufe. »Sie sind positiv, bleiben Sie in Ihrem Zimmer«, wird ihnen gesagt. Viele verstehen die Nachricht nicht, Mitbewohner*innen übersetzen. Sonkeng Tegouffo erzählt von seinem Telefonat mit John, der für einen Nachbarn anrief: »John war geschockt, er stand vor diesem Typen, der positiv getestet wurde, und hatte sein Telefon in der Hand. Dann musste er ihm noch das Ergebnis erklären.« Erst am Montag wird auch John getestet. Der Landrat und gleichzeitige Betreiber der Unterkunft, Ludger Weskamp (SPD), widerspricht: Die Ergebnisse seien in 14 Sprachen verteilt worden, sagt er.

Die Folgetage bleiben angespannt. Einige Infizierte teilen sich ihr Zimmer mit Menschen, die keinen Anruf erhalten haben. Niemand weiß, was es bedeutet, nicht angerufen zu werden. Acht Tage nach dem ersten Fall, am 24. April, werden die Angerufenen in zwei Häusern isoliert, alle anderen gelten als Kontaktpersonen.

Mitarbeiter*innen der Unterkunft laufen laut Bewohner*innen mit den Worten »Du, du und du, Sachen packen, mitkommen« durch die Zimmer. Für den Umzug bleibt eine Stunde Zeit. Wieder gibt es laut den Betroffenen keine Informationen - weder darüber, wann sie zurück in ihre Zimmer dürfen, noch mit wem sie jetzt zusammenleben müssen. Einige weigern sich, ihre Zimmer zu verlassen. John versucht, an Informationen zu kommen, fühlt sich von den wenigen Sozialarbeiter*innen jedoch kaum unterstützt: »Sie drehen sich weg. Sie haben Angst, dass wir sie anstecken«, erzählt er.

Dem Kreistagsabgeordneten der Linken in Oberhavel, Vadim Reimer, bereiten vor allem die Risikopatient*innen Sorgen: »Menschen mit Vorerkrankungen müssen Angst haben in dieser Unterkunft«, sagt er dem »nd«. So lebe dort unter anderem ein Diabetiker. Als sein Insulin zur Neige ging, habe dieser verzweifelt den Sicherheitsdienst angesprochen. Jemand würde sich kümmern, sei ihm gesagt worden. »Aber es hat sich niemand gekümmert«, so Reimer. Der Mann habe sich daraufhin an Hilfsorganisationen gewendet, die dann Druck auf den Betreiber ausgeübt hätten. Nur so habe er letztlich seine Medikamente erhalten.

Ein Polizeieinsatz eskaliert, der zuständige Landrat verschweigt das

Am 28. April berichten Bewohner*innen Sonkeng Tegouffo von einem brutalen Polizeieinsatz, bei dem ein Mann aus dem Bett gezerrt worden sei. Als sein Mitbewohner beginnt, die Szene zu filmen, hätten ihm die Beamt*innen das Telefon weggenommen und ihn rausgeworfen. Der Mitbewohner habe daraufhin Schreie gehört, kurze Zeit später den Mann in Handschellen am Boden gesehen. Was genau im Zimmer passiert ist, weiß niemand. »Die Polizei hat den Leuten nur zugerufen: ›Raus, raus, raus!‹ Wie mit Tieren ..., mein Gott«, berichtet Heimbewohner John.

Der Kreistagsabgeordnete Reimer ist erstaunt, als er von dem eskalierten Polizeieinsatz erfährt. In einer Telefonkonferenz am Abend nach dem Einsatz habe der Landrat noch versichert, es sei keine Polizei oder mittelbare Gewalt eingesetzt worden, erzählt er. Erst zwei Tage später äußert sich die Pressestelle des Landrats auf Nachfrage zu den Vorfällen. Ein Mann sei »bei der Absonderung von positiv getesteten Bewohnern« vorübergehend gefesselt worden, heißt es.

Manche Infizierte sind laut Kathrin Willemsen, Mitbegründerin der Initiative Willkommen in Oranienburg, mit Personen untergebracht, bei denen die Krankheit bereits ausgebrochen ist. Dies isoliert und ohne Unterstützung erleben zu müssen, gepaart mit der Panik, bald selbst krank zu werden, sei extrem herausfordernd, sagt Willemsen. Ihre größte Angst ist, dass die Situation eskaliert. Die Folgen seien in diesem besonders belasteten sozialen Gefüge, mit enormer Enge und dem Mangel an Beschäftigung, unvorhersehbar. Auch John sorgt sich: »Es muss Leute geben, die sich hier um uns kümmern. Wenn niemand informiert wird, dann gerät es außer Kontrolle«, glaubt er.

Am Tag nach dem Einsatz klingelt bei Sonkeng Tegouffo erneut das Telefon. Es gab kleinere Tumulte, die Bewohner*innen fordern Informationen, da sich Gerüchte verbreiten, dass die Quarantäne verlängert werden soll. »Das ist alles ziemlich unbefriedigend, was die Transparenz angeht«, resümiert der Linke-Politiker Reimer mit Blick auf die Isolierung der Unterkunft. Niemand könne kontrollieren, ob politische Maßnahmen umgesetzt und die Rechte der Bewohner*innen in der abgeriegelten Unterkunft geschützt werden. Auch Hilfsorganisationen wie die Initiative Willkommen in Oranienburg haben keinen Zutritt. »Wir dürfen da eigentlich nicht hin, auch heute waren wir nur am Zaun«, erzählt Willemsen. Auch Sonkeng Tegouffo ist besorgt: »Wir telefonieren weiter mit den Menschen, aber die haben kein WLAN. Irgendwann ist das Guthaben aufgebraucht - dann bekommen wir gar keine Informationen mehr.«

Wie lange die Quarantäne noch anhält, ist unklar

Nicht einmal über regionalpolitische Kommunikationsstrukturen seien Informationen zugänglich, kritisiert Reimer: »Es wird ganz viel gemauert, viele Informationen werden oft nur auf Nachfrage erteilt, und die Abgeordneten vom Umfang her nur so informiert wie auch die Presse.« Der nächste Schritt wäre, sich an die Landesregierung als Aufsichtsbehörde zu wenden. Reimer hat aber wenig Hoffnung. Die Maßnahmen seien mit der zuständigen Sozialministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) abgestimmt, heißt es aus dem Büro des Landrats.

Die Integrationsbeauftragte Brandenburgs, Doris Lemmermeier, besuchte die Unterkunft am vergangenen Donnerstag. Am Zaun stehen einige Bewohner, auch Politiker*innen sind anwesend. Lemmermeier verteilt 500 Masken an die Bewohner*innen und resümiert nach den Gesprächen, dass sich möglichst schnell um WLAN gekümmert werden müsse, damit sich die Bewohner*innen besser informieren können. Sie fordert zudem »intensive mehrsprachige Kommunikation der Regelungen« und zwar »auf Augenhöhe«.

Willemsen ist erleichtert, dass die Bewohner*innen endlich ihre Bedürfnisse kommunizieren konnten: »Das Problem sind nicht die Regeln, an die halten sie sich gern, aber sie wollen sie verstehen.« Was ihnen am am Zaun noch nicht erzählt wurde, ist, dass die Quarantäne bis zum 12. Mai verlängert wird. Weitere Tests folgen in dieser Woche. Dann soll entschieden werden, ob die Geflüchteten wieder rausdürfen oder die Quarantäne noch einmal um zwei Wochen verlängert wird.

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