Im Jammertal - Eltern in der Krise

Die Belastung für Familien steigt, je länger der Lockdown anhält.

  • Celestine Hassenfratz
  • Lesedauer: 8 Min.

Im Klagen teilt sich eine Sorge mit. Das Klagen drückt Schmerz aus, Enttäuschung, Entrüstung. Die Klage hat einen Adressaten. Das Jammern ist ein Schmerzruf, ein Verlangen, ein Entsetzen über einen Bruch. 11,4 Millionen Familien mit Kindern in Deutschland stehen gerade unter Jammervorwurf - öffentliches Jammern, Klagen, wird nicht gerne gesehen.

Aber Eltern und ihre Kinder fühlen sich in der Coronakrise von der Politik alleingelassen. Homeoffice, Homeschooling, Betreuung von Kleinkindern und Haushalt, alles zusammen, viel zu viel. Bereits vor der Krise litten viele Familien, vor allem Mütter, an Überlastung. Wie die Situation aktuell in den Familien aussieht, ist völlig unklar. Die Erfahrungen aus anderen Ländern wie Italien, Frankreich und China haben aber gezeigt, dass die Belastung für Familien sich in einer dramatischen Erhöhung der Fallzahlen von häuslicher Gewalt niederschlägt und die psychischen Folgen enorm sind.

Wie gehen Mütter, Väter und Kinder mit den Veränderungen im Alltag der Coronakrise um? Wer trägt welche Aufgaben? Welche kreativen Lösungen werden gefunden? Welche Auswirkungen wird die Krise langfristig auf die Geschlechtergerechtigkeit haben?

Moers am Niederrhein. 3.30 Uhr, Moniques Wecker klingelt. Sie geht direkt an den Rechner, nicht ins Bad, nicht an den Frühstückstisch, damit sie einen Teil ihrer Arbeit schafft, solange ihr Sohn noch schläft. Im Homeoffice zu arbeiten, ist sie gewöhnt, das macht sie seit 2017 in Vollzeit als Angestellte einer Steuerkanzlei. Der Vater des Vierjährigen arbeitet als Arbeitsvermittler beim Jobcenter, ebenfalls Vollzeit. Homeoffice ist hier nicht möglich, also fährt er jeden Morgen um 4.30 Uhr ins Büro. Er ist in die Leistungsabteilung versetzt worden, da geht jetzt die Post ab, erzählt Monique.

Anfangs haben die beiden noch versucht, eine feste Tagesstruktur für den Sohn beizubehalten. Stuhlkreis um 9 Uhr wie in der Kita, Sport mit Alba Berlin auf Youtube; all das ist jedoch nach und nach dem stressigen Alltag gewichen. In der Krise ist Moniques Arbeitspensum gestiegen: Anträge auf Herabsetzung der Vorauszahlung, Löhne abrechnen - viele sind in Kurzarbeit. Das sind Aufträge, die nicht so schnell gemacht sind, der Druck ist groß. Sie will die Mandant*innen nicht hängen lassen. Das Kind muss dann vor Tablet oder Fernseher, mit schlechtem Gewissen, aber anders geht es nicht im Moment.

Am schlimmsten empfindet sie die Ungewissheit: Wann ist ein normaler Alltag für den Vierjährigen und auch für sie als Familie wieder möglich? Nach Wochen der Isolation reagiert ihr Sohn verunsichert und zurückhaltend, wenn er jetzt andere Kinder auf der Straße trifft. Monique macht sich Sorgen, wie sich das auf die Entwicklung eines Kindes auswirkt, das es sonst gewohnt ist, den ganzen Tag unter Gleichaltrigen zu sein. Dazu kommt der Stress, die Gereiztheit; alle schlafen schlechter, die Nerven liegen oft blank. Dass das Wohl der Kinder nicht gesehen und es immer noch als selbstverständlich erachtet wird, dass die Frauen das zu Hause schon stemmen, findet Monique nicht in Ordnung.

Euphorie, dann Ernüchterung

Während in Berlin Kinder schon wieder Spielplätze besuchen dürfen, ist in Bayern immer noch alles geschlossen. Petra lebt in München, sie arbeitet Teilzeit bei einer großen Versicherung, ihr Mann Vollzeit, ebenfalls in der Finanzbranche. Normalerweise spielt die vierjährige Tochter bis nachmittags im Kindergarten. Gleichaltrige hat das Mädchen jetzt seit sechs Wochen nicht gesehen. So wie ein Viertel aller Kinder in Deutschland, die keine Geschwister haben.

Die Umstellung am Anfang der Krise vergleicht Petra mit einem Kulturschock: Alles war neu, irgendwie total klasse und sie selber überrascht, wie gut alles funktionierte. Der Arbeitgeber technisch super flexibel, Homeoffice kein Problem. Am Wochenende hat sie mit ihrem Mann ihren Kalender abgeglichen: Wer muss wann arbeiten, wer betreut das Kind, wer kocht, wer putzt? Nach der ersten euphorischen Phase kam das tiefe Loch. Ihre Reserven hatte sie sich bis zum 19. April eingeteilt, dann sollte die neue Entscheidung zu den Kitas kommen. »Die Perspektivlosigkeit und gar nicht zu wissen, wann es wieder anders wird, hat mich total fertig gemacht. Ich hab mich echt eingesperrt gefühlt«, berichtet Petra. Der 19. April kam, die Entscheidung wurde vertagt. Petra spielte dann mit dem Gedanken, unbezahlt Elternzeit zu nehmen - die Mehrfachbelastung auf Dauer war für sie einfach nicht vorstellbar, ohne Kinderbetreuung. Letztlich hat sie sich dagegen entschieden: »Die Arbeit ist mein letzter Zufluchtsort, an dem ich alleine sein kann.«

Während zu Beginn die Dauer der Schul- und Kitaschließungen und deren Auswirkungen wenig diskutiert wurden, melden sich in letzter Zeit immer mehr Mediziner*innen und Sozialverbände zu Wort, die beklagen, dass Kinder und deren Eltern mit ihren Interessen bei der Bewältigung der Coronakrise zu kurz kommen. Besonders Alleinerziehende und Familien mit Mehrfachbelastungen oder in schwierigen Verhältnissen sind von den Auswirkungen der Krise betroffen.

Robert und Nadine kennen die Sorgen und Nöte einiger Familien und Unternehmen in Berlin. Mit ihrem Coachingunternehmen »2PaarSchultern« setzen sie sich für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf in gleichberechtigter Aufteilung ein. Als die beiden vor fünf Jahren selbst Eltern wurden und vor der Herausforderung standen, Vollzeit-Berufstätigkeit und Kind vereinbaren zu wollen, mussten sie sehr um Verständnis bei ihren Arbeitgebern kämpfen. Von Eltern, deren Kräfte über Gebühr beansprucht werden, und Unternehmen, die händeringend nach Lösungen für eine familienfreundlichere Arbeitskultur suchen (Jobsharing, flexible Arbeitszeiten), berichten die beiden. Der Beratungsbedarf ist aktuell sehr hoch; Unternehmen und Familien suchen nach neuen Strukturen, Familienalltag und Berufstätigkeit in der Krise zu bewältigen. Die beiden raten Familien, die Krise auch als Chance zu sehen, eine gemeinsame Familienvision zu entwickeln, mit welchen Aufgabenverteilungen und gemeinsamen Zeiten man als Familie zusammenleben möchte.

Bereits zu Beginn der Krise warnte UN-Beraterin Maria Holtsberg: »In jeder Krise wächst die Ungleichheit der Geschlechter.« Es besteht eine Gefahr der Retraditionalisierung der Geschlechterrollen durch die Zuspitzung der Belastung. In vielen Fällen betrifft das in erhöhtem Maß Frauen, die auch heute noch den Großteil der Haus- und Erziehungsarbeit alleine tragen. Die sozialen und psychischen Folgen für Frauen und Kinder verschwinden nicht mit dem Ende der Pandemie, sie hinterlassen Spuren. Die Krise macht die ungleiche Aufteilung von Aufgaben in unserer Gesellschaft, insbesondere die der unbezahlten Haus- und Sorgearbeit verstärkt sichtbar, die prekären Arbeitsverhältnisse in sozialen Berufen, die Mehrfachbelastungen von Alleinerziehenden und Menschen in schwierigen Lebenssituationen. Vielleicht ist das die Chance - vielleicht können jetzt Debatten darüber, was privat, was politisch ist, in der Gesellschaft wieder geführt werden.

Ein Blick in die sozialen Netzwerke: Die Facebook-Gruppe »Eltern in der Krise« zählt kurz nach der Gründung bereits über 9000 Mitglieder. Der Protest im Netz umfasst Dutzende Petitionen. Auf dem Online-Slack-Kanal elterninderkrise suchen Hunderte Menschen nach kreativen Lösungen, Mikrobetreuungsgruppen, Coworking-Spaces, Betreuungsgeldern, Umverteilungen, Streiks. Hier scheint man schon weiter zu sein als in der Politik.

Kümmern statt jammern

Claus ist einer von den aktiven Vätern, betroffener Corona-Vater von zwei Schulkindern. Er weist darauf hin, dass sich in den Familien im Moment alles kreuzt, was in der Gesellschaft passiert: die Sorge um den Job, die finanziellen Probleme, das digitale Chaos. Der Vater hat in den letzten Wochen beobachtet, wie die Kinder zunehmend aus dem Stadtbild verschwanden. Beim Einkaufen waren sie nicht mehr gern gesehen, auf Spielplätze durfte man nicht, sie waren einfach weg.

Claus ist Sozialpädagoge, seine Frau Lehrerin. Er meint, sie hätten gedacht, dass sie pädagogisch gut aufgestellt seien - und dennoch kamen beide immer wieder an ihre Grenzen. Eltern sind eben Eltern und nicht Lehrer, beschreibt er die täglichen Machtkämpfe beim Homeschooling. Claus will nicht jammern. Er will hoffen, dass die sozialen Berufe endlich aufgewertet werden und frühkindliche Bildung auf die Agenda gesetzt wird.

Im Moment erlebt er aber eine andere Entwicklung. In Reutlingen, wo er mit seiner Familie lebt, hat die AfD bereits das Familienthema für sich entdeckt und versucht, die Stimmung zu nutzen. Er beobachtet auch, dass das Bild der Eltern langsam kippt in der öffentlichen Wahrnehmung. Eltern sollen sich doch bitte um die Bälger kümmern und aufhören zu jammern, so der Vorwurf. Für das Wochenende hat Claus mit anderen betroffenen Eltern eine öffentliche Aktion auf dem Reutlinger Marktplatz geplant. Einsame Gummistiefel ohne Kinderfüße sollen mahnen: »Wir sind noch da.«

Endlich ist er da, der Vier-Stufen-Plan der Bundesregierung, der das Jammertal der Eltern beenden soll. Stufe vier, Kita-Normalbetrieb, der in Deutschland auch weiterhin Kita-Mangelplatz-und-Qualitäts-Krise heißt, soll erst kommen, wenn ein Impfstoff gefunden ist. Ein wirkliches Ende ist also noch lange nicht in Sicht. Erleichterung gibt es dennoch: Familien dürfen sich jetzt zu Mikrobetreuungsgruppen zusammenschließen, sich gegenseitig helfen, irgendwie selbst Lösungen finden, alles ganz unbürokratisch. Wie sie das hinkriegen, ist ihr privates Problem. Am Sonntag ist Muttertag, die ersten Demos sind bundesweit beantragt. Mütterstreik statt Muttertag - vielleicht hilft das.

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