nd-aktuell.de / 13.05.2020 / Sport / Seite 3

Kriegsspiele

Vor 30 Jahren offenbarte sich der Zerfall Jugoslawiens in einem Fußballstadion. Der Nationalismus wirkt bis heute

Ronny Blaschke, Belgrad

Der Panzer ist mit Streifen in Rot und Weiß bemalt, dazwischen das Logo von Roter Stern Belgrad, des beliebtesten Fußballklubs Serbiens. Seit August 2019 kletterten Fans vor ihren Heimspielen auf den Panzer, direkt neben dem Stadion. Sie lachten, schwenkten Schals, ließen sich fotografieren. Der Panzer war Anfang der 90er Jahre in Vukovar im Einsatz gewesen, die kroatische Stadt wurde von serbischen Einheiten weitgehend zerstört. Heute soll er die serbische Standhaftigkeit symbolisieren. Fußball als Kriegsspiel? Auf dem Balkan ist das keine Übertreibung.

Der Vielvölkerstaat ist am Ende

Ein Anstoß für diese Entwicklung liegt genau 30 Jahre zurück. Am 13. Mai 1990 treffen im Maksimir-Stadion von Zagreb die besten Mannschaften Jugoslawiens aufeinander, Dinamo Zagreb und Roter Stern Belgrad. Fans durchbrechen Zäune, werfen Steine, zerstören Sitzschalen. Spieler flüchten in die Kabine, die Partie endet vorzeitig. »Im sozialistischen Jugoslawien war Nationalismus offiziell verboten, aber im Stadion brach er hervor«, sagt Krsto Lazarević, früher Korrespondent in Belgrad. Im Maksimir wird es so deutlich wie selten zuvor: Der Vielvölkerstaat Jugoslawien ist am Ende. Es beginnt eine Spirale der Gewalt, vor allem zwischen Kroaten und Serben. Mit Folgen bis in die Gegenwart.

Wer heute durch Serbiens Hauptstadt Belgrad läuft, stößt schnell auf Markierungen von Fußballfans: Graffiti und Aufkleber an Häuserwänden, Brücken, Straßenschildern. Martialische Motive von kampfbereiten Männern. In der Nähe des Stadions von Roter Stern ist eine Gedenktafel den Opfern der Jugoslawienkriege gewidmet. Und immer wieder ein Name: Arkan.

Željko Ražnatović, genannt Arkan, vertreibt ab den 80er Jahren die Fanartikel von Roter Stern Belgrad. Ražnatović hat den gleichen Wunsch wie der Politiker Slobodan Milošević: die Vereinigung aller Serben in einem ethnisch homogenen Staat. Wenige Monate nach dem historischen Spiel im Maksimir 1990 gründet Ražnatović die »Serbische Freiwilligengarde«, eine paramilitärische Truppe mit Hunderten Hooligans. »Arkans Tiger« ziehen in den Krieg, erst gegen kroatische, dann gegen bosnische Einheiten. Sie begehen Morde, Vergewaltigungen, Vertreibungen.

Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien klagt nach dem Krieg 161 Personen wegen schwerer Verbrechen an, doch Tausende Täter entziehen sich der Justiz. Željko Ražnatović mischt als Unternehmer im serbischen Fußball mit, wegen eines internationalen Haftbefehls meidet er Auswärtsspiele in europäischen Wettbewerben. Im Jahr 2000 wird er in einer Hotellobby erschossen, beliebt ist er bei vielen Fans noch heute.

»Die Verharmlosung von Kriegsverbrechen gehört zur serbischen Fankultur«, sagt der Publizist Krsto Lazarević und nennt ein Beispiel: Der bosnisch-serbische General Ratko Mladić ist 1995 verantwortlich für das Massaker von Srebrenica, für den Tod von 8000 Bosniern. 2017 wird Mladić zu lebenslanger Haft verurteilt, doch für viele Serben bleibt er ein Verteidiger ihrer Kultur. Aus Solidarität rufen Ultras von Roter Stern Belgrad im Stadion seinen Namen. Spieler aus der nordserbischen Stadt Novi Sad tragen T-Shirts mit seinem Konterfei.

Filip Vulović hat für diese Art von Fußballbegeisterung nichts übrig, trotzdem muss er sich damit beschäftigen. Der Student gehört zu den Organisatoren von »Belgrade Pride«, einer Veranstaltungsreihe der schwul-lesbischen LGBT-Gemeinde mit Workshops, Konzerten und Straßenumzug. In ihrem Infozentrum in der Nähe der Belgrader Fußgängerzone zeigt Vulović auf das Foto eines blutüberströmten Mannes. »Es war wie in einem Bürgerkrieg«, sagt er über den Sommer 2010.

Damals machen rechtsextreme Politiker und Vertreter der orthodoxen Kirche Stimmung gegen LGBT. Am Tag des Umzuges strömen 6000 Hooligans in die Innenstadt von Belgrad. Straßenkämpfe, mehr als 150 Verletzte, Schäden in Millionenhöhe. »Ich war in der Pubertät und fand allmählich heraus, dass ich auf Männer stehe«, sagt Vulović. »Diese Erfahrung hat uns weit zurückgeworfen.«

Hooligans - eine politische Armee

Die Ausschreitungen lassen die prowestliche Regierung schlecht dastehen. Schnell machen Vermutungen die Runde, dass die Opposition die Hooligans unterstützt habe. Schließlich seien Tausende in Bussen nach Belgrad transportiert worden. Einer der damaligen Regierungskritiker wird 2017 schließlich selbst Staatspräsident: Aleksandar Vučić. Und der erinnert gern an seine Vergangenheit in der Fanszene von Roter Stern.

»Die Hooligans sind wie eine Armee, es gibt Anführer und Soldaten«, erzählt der Journalist Slobodan Georgiev vom Investigativnetzwerk Birn. »Das sind rechtsradikale Leute, die schnell Tausende Männer für die Straße mobilisieren können.« Einige Parteien beauftragen Hooligans als Sicherheitskräfte. Es ist ein offenes Geheimnis in Belgrad, dass der serbische Geheimdienst Kontaktleute in den Fanszenen hat, auch um Proteste gegen die Regierung zu verhindern. In der Amtszeit von Präsident Vučić findet »Belgrade Pride« dann auch ohne große Vorkommnisse statt.

»Selbst wenn wir Strafraten von Hooligans aufdecken, hat das selten juristische Konsequenzen«, sagt der Reporter Georgiev. »Sie gelten für viele als Wächter nationaler Interessen.« Als sich Kosovo 2008 von Serbien unabhängig erklärt, ziehen in Belgrad Hooligans wütend auf die Straße. Einige reisen seither immer wieder ins mehrheitlich muslimische Kosovo. Sie singen dort die serbische Hymne und skandieren gegen »islamische Eindringlinge«.

Die Kriegsnostalgiker in Belgrad sind von ihrer Vorstellung eines »großserbischen Reiches« denkbar weit entfernt, in Serbien erinnert man eher selten an das Jahrhundertspiel vom 13. Mai 1990. Das ist in Kroatien ganz anders. Und das liegt an Zvonimir Boban. Während im Maksimir-Stadion Fans und Spieler aufeinander losgehen, tritt der damals 21-jährige Spieler von Dinamo Zagreb einen Polizisten. »Für viele Kroaten war das eine symbolische Auflehnung gegen jugoslawische Institutionen, die oft von Serben dominiert waren«, sagt Dario Brentin vom Zentrum für Südosteuropastudien der Universität Graz.

Direkt am Maksimir erinnert heute eine Gedenktafel an jenes Spiel. Ein paar Kilometer weiter zeigt eine Wandmalerei den Tritt von Zvonimir Boban. Jahr für Jahr erinnern Fans von Dinamo mit Aktionen daran. »In der Herausbildung der kroatischen Nation wird der 13. Mai 1990 als eine Grundsäule betrachtet«, sagt Dario Brentin. »Dieses Spiel ist mit weiteren Ereignissen zu einem modernen Mythos verknüpft worden.«

Anfang der 90er Jahre unterstützen viele Fans von Dinamo Zagreb Franjo Tuđman, den ersten frei gewählten Präsidenten Kroatiens. Während des Krieges gegen die serbisch dominierte Volksarmee Jugoslawiens wirbt Tuđman auch im Fußball für ein »aufrechtes Kroatentum«. Er will kommunistische Symbole tilgen, 1993 lässt er den Namen des wichtigsten Vereins ändern, von Dinamo in Croatia Zagreb. Fans, die dagegen protestieren, sind für Tuđman »Geheimagenten aus Belgrad«. Nach seinem Tod wird die Umbenennung rückgängig gemacht.

Im Widerstand gegen die Serben berufen sich viele kroatische Nationalisten auf die Ustascha. Während des Nationalsozialismus war diese faschistische Bewegung für die Ermordung von einer halben Million Serben, Juden und Roma verantwortlich gewesen. 1996 posiert der kroatische Nationalspieler Davor Šuker in Madrid vor dem Grab von Ante Pavelić, einst Anführer der Ustascha. Zwei Jahre später bei der WM in Frankreich erreicht Šuker mit der kroatischen Auswahl überraschend den dritten Platz. »Der Sport etabliert sich als Stütze für eine nationale Identität in Kroatien«, sagt der Politikwissenschaftler Dario Brentin.

Und wie ist das gesellschaftliche Klima mehr als 20 Jahre später? »Auf dem Balkan gibt es keine differenzierte Aufarbeitung der Jugoslawienkriege. Jedes Land pflegt seine eigene Erinnerungskultur«, sagt Filip. Er gehört zu NK Zagreb 041, der Amateurklub positioniert sich gegen Diskriminierung. Einmal gingen vermummte Hooligans mit Schlagstöcken und Pfefferspray auf sie los.

Rechtsrocker im Mannschaftsbus

Bei einem Spaziergang durch Zagreb deutet Filip auf Hakenkreuze und Ustascha-Symbole an Häuserwänden. Auf seinem Handy zeigt er ein Video von Ultras aus Split. Im August 2019 stellen sie in einer Stadion-Choreografie die Zerstörung eines serbischen Panzers dar. »Auch andere Gruppen präsentieren Wappen und Fahnen von Milizen, die gegen Serben gekämpft haben«, sagt Filip. »Und der Nationalismus wird von Prominenten befeuert.«

Nach der Qualifikation des kroatischen Nationalteams für die WM 2014 intoniert der Spieler Josip Šimunić in Zagreb den alten Gruß der Ustascha. »Za dom spremni« - Für die Heimat bereit. Bei der WM 2018 scheitert Kroatiens Auswahl erst im Finale. Bei der Willkommensfeier in Zagreb ist im Mannschaftsbus auch Marko Perković dabei, Gründer von Thompson. Die umstrittene Rechtsrockband ist bei vielen Fans beliebt.

Serbien und Kroatien: Am 13. Mai 1990 wurde der Nationalismus im Stadion Maksimir so deutlich wie selten zuvor. In den 30 Jahren danach hat sich viel geändert, sagt Filip. Allerdings nicht alles zum Besseren.