nd-aktuell.de / 23.05.2020 / Politik / Seite 3

Lob statt Geld

Präsident Macron stimmt seit Corona vor allem gesundheitspolitisch sozialere Töne an. Tatsächlich agiert die französische Regierung allerdings weiter wirtschaftsliberal

Bernard Schmid

Wurde Emmanuel Macron vom rabiat wirtschaftsliberalen Saulus zum sanft-sozialen Paulus? Einige möchten dies glauben, hat Frankreichs Präsident doch vor allem in Sachen Gesundheitspolitik mit Beginn der durch die Pandemie ausgelösten Krise eine rhetorische Kehrtwende vollzogen. Bereits in seiner ersten TV-Ansprache zum Thema am Abend des 12. März, noch vor Beginn der am 17. März verhängten und knapp zwei Monate geltenden allgemeinen Ausgangsbeschränkungen, betonte er die Bedeutung des Gesundheitssektors, erklärte die staatliche Einmischung in das wirtschaftliche Geschehen für notwendig. Schließlich dürfe die Gesellschaft nicht allein den Marktkräften ausgesetzt sein. Die linke Onlinezeitung »Mediapart« sprach daraufhin von einem »keynesianischen Flash«, warnte allerdings zugleich vor Illusionen.

Macrons Beliebtheit haben seine Ausführungen nicht besonders geholfen: Auch nach mehrwöchiger Coronakrise sind seine Popularitätswerte weitaus schlechter als die von Angela Merkel oder die des italienischen Ministerpräsidenten Guiseppe Conte: Anfang Mai erklärten bei einer Umfrage für das Institut Elabe nur 34 Prozent ihr »Vertrauen« in das Staatsoberhaupt, die Krise gut zu meistern. Offensichtlich hat die Mehrheit der Franzosen nicht vergessen, dass es just die Beschäftigten im Gesundheitssektor waren, die bis zum Ausbruch der Coronakrise ein Jahr lang beharrlich gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen und gegen das Kaputtsparen des öffentlichen Gesundheitswesens gestreikt hatten. Die Bewegung war im März 2019 von den Notaufnahmen der Pariser Krankenhäuser ausgegangen.

Fehl schlugen auch Macrons Bemühen um Sympathie bei denen, die nun vielfach von den Balkonen als »Heldinnen und Helden der Nation« gefeiert wurden, von Ärztinnen bis zu Krankenpflegern. Am 9. April besuchte er ein Krankenhaus in der Pariser Vorstadt Kremlin-Bicêtre. Die Presse war nicht zugelassen, stattdessen filmte das Team des Elysée-Palasts den Auftritt und stellte danach Bilder vom Besuch ins Internet. Darauf wirkte die Szene so, als ernte Macron Applaus. Kurz darauf stellten jedoch auch Mitglieder der Gewerkschaften CGT und SUD eigene Aufnahmen ins Netz, auf denen die Situation ganz anders aussah: Der Beifall brandete für eine Krankenschwester mit CGT-Mitgliedschaft auf, die Macron bei seinem Eintreffen hart kritisiert hatte. Eine weitere Visite am 15. Mai im Pariser Großkrankenhaus La Pitié-Salpétrière lief nicht viel besser für ihn. Dieses Mal wählte Macron den Weg der scheinbaren Selbstkritik und räumte ein, es sei für ihn eine »bittere Erfahrung« gewesen, erkennen zu müssen, dass man »nicht genug zugunsten der Krankenhäuser« getan habe.

Tatsächlich gab es bisher gar keine Verbesserungen für die Krankenhäuser - sieht man von verbalen Ankündigungen ab. In Frankreich wurde die Zahl der Krankenhausbetten von 1998 bis 2019 von 500 000 um über 100 000 reduziert. Zu Beginn der Coronakrise wies das Land 5000 Betten auf Intensivstationen auf. Auf dem Höhepunkt der Krankenzahlen konnten sie vorübergehend zwar mehr als verdoppelt werden. Damit war das Niveau der 28 000 Intensivbetten in der Bundesrepublik zu Beginn der Krise aber noch lange nicht erreicht. Die Pariser Ärztin Béhija (Nachname dem Autor bekannt) berichtet, dass just in diesen Tagen Krankenhausplätze, die während der akuten Phase der Krise in »Coronabetten« umgewandelt wurden, nicht wieder in den Normalbetrieb zurückgingen, sondern einfach wegrationalisiert wurden. Sie ist eine von 175 Unterzeichner*innen einer von Ärzt*innen getragenen Strafanzeige gegen Regierungsmitglieder. Darin werfen sie der Regierung zu Beginn der Krise Fremdgefährdung vor, unter anderem, weil es in den Krankenhäusern zu wenige Schutzmasken gab und die Mitarbeiter nicht auf Covid-19 getestet wurden.

Man erinnert sich an Fernsehreportagen aus französischen Notaufnahmen zu Jahresbeginn, als SARS Cov-2 noch eine innere Angelegenheit Chinas zu sein schien. Darin berichteten Beschäftigte, dass immer mehr Kolleg*innen von den bis zu dreimal besser zahlenden Privatkliniken abgeworben würden. Auch die Bestgewillten könnten der Versuchung aufgrund unerträglicher Zustände im öffentlichen Krankenhauswesen oft nicht länger widerstehen. Dadurch verschärfe sich der Personalmangel, was zu einem höheren Druck auf die Verbliebenen führe.

Reformen wie eine »Aufwertung« der Gesundheitsberufe oder verbesserte Arbeitsbedingungen hat Macron schon oft versprochen, etwa Ende März bei einem Auftritt im Feldlazarett der Armee vor den Toren des Krankenhauses von Mulhouse - die südelsässische Stadt war in Frankreich die am stärksten von Covid-19 betroffene - und zuletzt vorige Woche in La Pitié-Salpétrière. Anfang dieser Woche dagegen versprach Gesundheitsminister Olivier Véran ein »Aufweichen« der angeblich starren 35-Stunden-Woche im Gesundheitswesen. Zwar ist es richtig, dass in Frankreich seit dem Jahr 2000 eine gesetzliche Regelarbeitszeit von 35 Stunden pro Woche gilt. Schon immer ließ es jedoch Arbeitgebern viel Spielraum für Flexibilität, denn die Durschnittsdauer von 35 Stunden wöchentlich muss lediglich im Mittelwert eines bestimmten Zeitraums erreicht werden. Dieser betrug damals ein Jahr, seit der »Arbeitsrechtsreform« unter François Hollande 2016 kann er auf bis zu drei Jahre ausgedehnt werden.

Zusätzlich regt die Regierung eine einmalige Lohnprämie für die »Helden« der Coronakrise an, deren Gesundheitsrisiko in Seuchenzeiten erheblich gestiegen ist. Erhalten sollen die Prämie sowohl Beschäftigte in Gesundheitsberufen als auch in Lebensmittelgeschäften und Supermärkten. Bezahlen sollen die Prämie von 1500 Euro die Arbeitgeber. Zum Teil lockt die Regierung die Unternehmen mit Steuererleichterungen, falls sie so verfahren. Doch da es bisher kein entsprechendes Regierungsdekretgibt, ist noch keine Prämie ausgezahlt worden. Das Dekret wurde nun vor wenigen Tagen veröffentlicht, die Prämie soll im Juni kommen. Am Mittwoch wurde allerdings bekannt, dass es in manchen Krankenhäusern eine »Quote« geben soll, also nur ein Teil der Beschäftigten den Bonus erhalten soll. Auch die Supermarktketten spielen nicht alle mit. Ein Fall, der besonders für Empörung sorgte: Bei Monoprix wurden zwei Beschäftigte in den Pariser Vorstädten Boulougne-Billancourt und Issy-les-Moulineaux von der Lohnprämie ausgeschlossen, weil sie im fraglichen Zeitraum gefehlt hätten. Beide lagen mit Covid-19 auf der Intensivstation.

Am 1. Mai wurde mancherorts versucht, gegen die Zustände zu demonstrieren. Durch das »Gesetz zum sanitären Ausnahmezustand« waren zu dem Zeitpunkt Versammlungen bis zu 100 Personen noch erlaubt. Allerdings durften Privatpersonen nur unter bestimmten Voraussetzungen das Haus verlassen, einen im Gesetz vorgesehenen Grund mussten sie in einen Passierschein eintragen. Die junge Lehrerin Amélie (Nachname dem Autor bekannt) berichtet, im 18. Pariser Bezirk habe sie am 1. Mai von der Polizei nicht einen, sondern zwei Strafzettel über je 135 Euro erhalten - auf derselben Straße und kurz nacheinander. Zusammen mit einigen Dutzend Anderen hatte sie am Tor des Krankenhauses Bichat mit Transparenten für bessere soziale Verhältnisse und für mehr Geld im Gesundheitswesen demonstriert. In ihrem Stadtbezirk allein wurden 60 Personen wegen verschiedenen Protestversuchen am 1. Mai mit Geldbußen überzogen.

Seit der Aufhebung der generellen Ausgangsbeschränkungen am 11. Mai gilt nun immer noch ein Verbot von Versammlungen ab elf Personen. Doch an jenem Montag kamen an den Eingängen von fünf Krankenhäusern in Toulouse über 1000 Menschen zusammen, die - dieses Mal ohne polizeiliche Sanktionen - zusammen mit dort Beschäftigten protestierten. Zu ähnlichen Aktionen kam es am Donnerstag voriger sowie am Mittwoch und Donnerstag dieser Woche vor zwei Pariser Krankenhäusern.

Wie Anfang diese Woche beschlossen wurde, rufen die Gewerkschaften im Gesundheitssektor nun zu Großdemonstrationen am 16. Juni auf. Ihr Protest könnte zum Kristallisationspunkt für verbreiteten sozialen Unmut werden.