Gewerkschaft auf Abwegen

Thomas Gesterkamp wundert sich über Forderungen der Bildungsgewerkschaft GEW in der Coronakrise

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 4 Min.

Man stelle sich das in der Industrie vor: Ein Arbeiter weigert sich, in der Werkshalle zu erscheinen, weil er 61 Jahre alt ist. Ein Ingenieur hat Diabetes und die Personalerin ist schwanger, sie bleiben deshalb ebenfalls zu Hause. Die Begründung ist stets die gleiche: »Corona«. Reicht das? In der Privatwirtschaft mit Sicherheit nicht, in manchen Teilen des öffentlichen Dienstes schon.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) protestiert in Sachsen dagegen, dass abwesende ältere Lehrkräfte künftig ein ärztliches Attest über ihre »Vorerkrankung« vorlegen sollen. Vor der Wiedereröffnung der Schulen waren sie auf Wunsch und ohne medizinische Prüfung von ihrer Tätigkeit freigestellt worden. In Nordrhein-Westfalen wendet sich die GEW gegen die Öffnung der Förderschulen. Ausgerechnet Kinder mit Behinderung sollen ihrer Meinung nach vorerst keinen Präsenzunterricht erhalten. Dabei ist unumstritten, dass unter der Schulschließung und dem digitalen Improvisieren im Homeschooling benachteiligte Familien besonders gelitten haben. Die dort Aufwachsenden brauchen nun noch mehr Unterstützung, um nicht weiter abgehängt zu werden.

Paradox, dass die eher linke Lehrergewerkschaft so genau zu jener Verschärfung der sozialen Spaltung beiträgt, die sie am Schulsystem stets kritisiert hat. In der berechtigten Sorge um die Gesundheit ihrer Mitglieder reklamiert sie Sonderrechte, von denen Beschäftigte in anderen Branchen nur träumen können. Allerdings hat die CDU-geführte Landesregierung in Sachsen mit ihrem übereilten Schulstart für alle Klassen den Konflikt provoziert. Als Reaktion auf diese Order von oben ist auf der GEW-Homepage von »Unverständnis, Wut und Angst« die Rede, von einem »Massenexperiment« und einer »groben Verletzung der Fürsorgepflicht«.

Vorsicht ist in Pandemiezeiten unverändert geboten, und selbstredend ist das Einhalten von Abstandsregeln etwa in einer Förderschule schwerer zu kontrollieren als in der Oberstufe eines Gymnasiums. Doch das ist keine Rechtfertigung für den irrlichternden Kurs einer Gewerkschaft, die in ihren Verlautbarungen regelmäßig das Thema Bildungsgerechtigkeit herausstellt. Die GEW sollte keine einseitige Lobbypolitik betreiben, um jene Kolleginnen und Kollegen zu unterstützen, die sich (zum Teil durchaus verständlich) vor dem Unterrichten in Corona-Zeiten fürchten. Aussagen wie »Ich kann nicht arbeiten, ich hab’ Bluthochdruck«, so wörtlich eine unwillige ältere Lehrerin, sind Wasser auf die Mühlen jener, die seit langem und zu Unrecht über angeblich »faule Säcke« lästern.

Denn gerade jetzt, wo Klassen wegen der Abstandsregeln in Kleingruppen in getrennten Räumen unterrichtet werden müssen, wird jede Lehrkraft dringend gebraucht. In der Primus-Gesamtschule Berg Fidel im westfälischen Münster, die sich dem Thema Inklusion besonders verpflichtet hat, ist ein Drittel des Kollegiums zur Zeit nicht einsatzfähig, weil es zur »Risikogruppe« zählt. An anderen Schulen ist dieses Verhältnis teils noch extremer, dort fehlt mehr als die Hälfte des Lehrkörpers. Viele engagierte Pädagogen und Pädagoginnen, auch solche, die älter sind als 60 Jahre, zeigen deshalb Solidarität und kommen trotz persönlicher Bedenken in die Schule.

In Berg Fidel ist Mundschutz Pflicht, und alle verfügbaren Lehrkräfte waren schon kurz nach Wiedereröffnung der Schulen im Einsatz - obwohl erst ein gutes Zehntel der insgesamt 550 Schülerinnen und Schüler anwesend war. Parallel lief die »Notbetreuung« für Kinder von Eltern in »systemrelevanten« Berufen weiter. Nach den »Zehnern« sind inzwischen die Viertklässler hinzugekommen, denn in der Logik der Bildungsbürokratie geht es vorrangig um Prüfungen und soziale Selektion. »Das konnten wir räumlich und vom Personal her gerade noch stemmen«, sagt Christian Möwes, der die Abgangsklassen betreut. Nach der Zwangspause stellt er deutliche Wissenslücken fest, die aber »extrem elternhausabhängig« seien. Wo es an technischer Infrastruktur und qualifizierter Begleitung gemangelt habe, seien die Defizite besonders groß. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen brauchten persönlichen Kontakt und »direkte Beratung«.

Der Schwerpunkt des »Re-Schooling« muss auf den Grund- und Förderschulen liegen, denn beziehungsorientiertes Lernen ist im digitalen Fernunterricht nur begrenzt möglich. Das sollte die Richtschnur der GEW sein. Eine an den Mitgliederinteressen orientierte Politik deckt sich nicht zwangsläufig mit dem postulierten Ziel der sozialen Gerechtigkeit.

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