Eine Gesellschaft ohne Schule

Joshua Conens hat einen Film über das freie Lernen gemacht und fordert alternative Bildungsorte

Es gibt Momente, da kommen mir schon Zweifel: Mein Sohn geht in die dritte Klasse und macht jetzt in der Coronazeit eigentlich nur einen Bruchteil seiner Hausaufgaben. Abends kommt er selten vor halb zehn ins Bett, und es kostet mich Überredungskunst, dass er sich die Zähne putzt. Dafür guckt er sich stundenlang Lego-Kataloge an oder stromert mit einem Freund durch den Wald. Es könnte besser laufen, denke ich manchmal. Aber ich lasse ihn. Er soll seine Kindheit ausleben. Ist das aus pädagogischer Sicht ein Fehler?

Biografien gehören für mich zu den größten Geheimnissen. Und das höchste Gut ist ihre Individualität. Also müsste ich Ihr Kind erst einmal kennenlernen, bevor ich dazu konkret etwas sagen kann. Die Frage ist für mich, was meint eigentlich pädagogisch? In der Regel bedeutet es doch: mit besten Absichten Druck, Zwang und Gewalt anzuwenden, um aus unseren Kindern gute Mitglieder der Gesellschaft zu machen. Doch so bringen wir ihnen bei, dass dies eine angebrachte Umgangsweise ist.

Im Interview

Joshua Conens, Jahrgang 1987, ist Filmemacher von Spiel- und Dokumentarfilmen. Er beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema der freien Bildung, ausgehend von dem Projekt Yumendo, einem selbstorganisierten Orientierungsjahr, das Nordrhein-Westfalen von 2006 bis 2007 getestet hatte. Sein Spielfilm »Caraba« zeigt das Leben von fünf Jugendlichen, die ihren individuellen Bildungsweg ohne Schule verfolgen. Für sein eigenes fünfjähriges Kind ist er momentan auf der Suche nach einem geeigneten Lernort. Stefan Otto hat sich mit ihm über einen längeren Zeitraum in einem E-Mail-Wechsel ausgetauscht: über den Sinn von Lehrplänen und alternative Bildungsstrukturen abseits von Unterordnung, Anpassung und abfragbarem Wissen.

Foto: privat

Ich sehe ein Spannungsverhältnis in den Schulen: Die Kinder haben alle ihre eigenen Neigungen und Antipathien und sollen alle gleichermaßen nach den Lehrplänen unterrichtet werden. Für die Lehrenden ist es natürlich manchmal schwierig, alle Kinder mit ihren speziellen Bedürfnissen zu berücksichtigen. Aber ein Lehrplan sorgt auch für ein Grundgerüst, eine Allgemeinbildung, die jede Schülerin und jeder Schüler bekommen sollte. Sind nicht die Lehrpläne ein Garant für Chancengleichheit?

Gerade in Deutschland ist ja hinlänglich belegt, dass Schule gerade nicht für Chancengleichheit sorgt, sondern im Gegenteil die Differenzen verstärkt. Insofern müssen wir da andere Wege finden, wie wir als Gesellschaft dafür sorgen können, dass jeder junge Mensch Zugang zu der Bildung hat, die er braucht und sich wünscht. Ich glaube an das unglaubliche Potenzial jedes jungen Menschen. Wenn ich meinen Sohn beobachte: Ich weiß gar nicht, was ich tun könnte, damit er nicht lesen, schreiben, rechnen lernt. Genauso wie er selbstverständlich ohne Lehrplan laufen und sprechen gelernt hat, lernt er auch die anderen Dinge. Denn jeder junge Mensch will wachsen, sich entwickeln und sich bilden. Vor allem geht es darum, sie daran nicht zu hindern.

Ich erlebe gerade beim Homeschooling während der Coronakrise, dass die Voraussetzungen dafür sehr unterschiedlich sind. Es gibt Eltern, die betreuen und fördern ihre Kinder mehr als andere. Also empfinde ich Schule eher als einen Ort, an dem Unterschiede aufgrund der Herkunft abgemildert werden und damit für mehr Chancengleichheit sorgt. Aber wenn ich mir die Aufgaben anschaue, die Neunjährige mit nach Hause bekommen, tut es mir leid, dass sie sich damit abgeben müssen. Das sind überwiegend stupide Übungen. Was läuft da falsch?

Es sollte keinesfalls darum gehen, die Schulen durch den häuslichen Unterricht zu ersetzen. Was es braucht, sind neue Bildungsstrukturen - ohne Beschulungsideologie. Es kann doch heute nicht mehr um Unterordnung, Anpassung und abfragbares Wissen gehen. Für die Zukunft sind wir darauf angewiesen, Formen zu finden, wie der Einzelne sich nicht der Gemeinschaft unterordnen muss und wir trotzdem zusammenfinden. Es braucht ein anderes Zusammenleben mit jungen Menschen, das sie in ihrer Würde als Subjekt anerkennt.

Manche behaupten, dass nach der Coronakrise vieles anders sein wird. Noch liegt der Unterricht mehr oder weniger brach. Entstehen dadurch Freiräume für neue Lernprojekte?

Ich erlebe es so, dass eher ein Vakuum entsteht. Es fehlt aktuell eine Idee, wie Bildung jenseits der Schule aussehen kann - außer eben die Schule zu Hause fortzuführen. Um die Freiräume nutzen zu können, bräuchte es den Mut, die unzeitgemäßen Strukturen hinter sich zu lassen und zukunftsweisende Ideen und Infrastrukturen zu schaffen. Ohne ein Bild von zukünftigen Bildungslandschaften jenseits der Institutionen wird es so bleiben, wie es ist. Deshalb habe ich zusammen mit anderen den Film »Caraba« gemacht, der eine Welt ohne Schulen zeigt.

Der Film gibt Einblicke ins freie Lernen am Beispiel Einzelner. Aber wie können alternative Bildungsstrukturen aussehen?

Ich bin da mit fertigen Antworten zurückhaltend. Es bräuchte aber Strukturen, die dienend sind, die sich den individuellen Bedürfnissen, Begabungen und Interessen der Menschen ohne Bevormundung widmen. Es bräuchte Räume, wo sie sich hinwenden können, wenn sie Unterstützung benötigen - zum Beispiel, wenn sie Töpfern lernen wollen -, wenn sie selbst einen Workshop anbieten wollen oder wenn sie auf der Suche nach Menschen mit gleichen Interessen sind. Infrastrukturen könnten dort bereitgestellt werden, sie würden beraten werden, wenn sie es denn wünschen. Und es könnte ein Ort sein, an dem sich Mitlernende, Lehrende und Mentor*innen vernetzen. Vor ein paar Jahren gab es in Berlin das Projekt »HandlungsSpielRaum«, das ich mitgegründet hatte. Das war ein Experiment, das in diese Richtung ging. Auch die »Lernwerkstatt«, die es in Berlin noch immer gibt, ist ein solcher Versuch.

Ich frage mich, ob in der Coronazeit nicht auch Chancen vertan werden. Schließlich kommt es nicht alle Tage vor, dass die Schulpflicht quasi aufgehoben wird. Oder nutzen viele Kinder schon längst ganz individuell die sich ihnen bietenden Freiräume, und wir sollten das mehr wertschätzen? Sollten wir beispielsweise das zwanglose Bolzen als »Straßenfußball« und damit als edle Form des Kickens ansehen? Schaffen sie sich nicht mit ihren Spielfiguren eigene, fantasievolle Welten, die wichtig für ihre Entwicklung sind? Auch wenn sie ihre Schulaufgaben derzeit nicht immer machen, so lesen sie vielleicht mehr und eignen sich so ebenso wichtige Fertigkeiten und Kenntnisse an?

Ja, sicher. Bildung passiert unentwegt. Das lässt sich gar nicht verhindern. Ich bin überzeugt, dass mein Sohn wahrscheinlich ohne Schule Wesentlicheres lernt und selbstbewusster, kreativer und ungehorsamer wird. Die Schriftstellerin und Brandenburger Verfassungsrichterin Juli Zeh schrieb kürzlich in einer Kolumne im »Focus« von der »Angst vor der existenziellen Unkontrollierbarkeit des Lebens«. Schule ist eine Institution, um das Leben kontrollierbar zu machen. Es gehört für mich zu einem der größten Schmerzen, zu sehen, wie bei den jungen Menschen das Leben versucht wird zu verhindern.

Einen Einwand habe ich trotzdem: Ist es nicht wertvoll, wenn Kinder in der Schule einen Wissenskanon vermittelt bekommen, der übers Lesen, Schreiben und Rechnen hinausgeht? Ich erinnere mich an eine Begegnung zwischen dem Moderator Günther Jauch und dem Rapper Sido, die sich in einer Talksendung über das Gedenken an die NS-Zeit stritten. Jauch regte dazu an, dass alle Schüler ein Konzentrationslager besuchen sollten; Sido meinte dagegen, niemand solle dazu gezwungen werden, sich mit geschichtlichen Themen zu beschäftigen. Ich war bei diesem Punkt eher bei Jauch. Wenn Menschen eine Grundbildung erhalten, hat das auch einen gesellschaftlichen Mehrwert, oder?

Es braucht dafür zunächst eine Bereitschaft. Die Hirnforschung weiß das schon lange: Ohne die aktive, innere Beteiligung wird das nichts. Es kommen durchaus wertvolle Bildungsinhalte in der Schule vor, zum Beispiel wird Goethes »Faust« oder die »Weiße Rose« behandelt. Ich habe in der 11. Klasse »Unterm Rad« von Hesse gelesen. Wenn nur die Hälfte der jungen Menschen diese Literatur und diese Themen verinnerlichen würde, dann müsste unsere Gesellschaft ganz anders aussehen. Der Zwang führt aber nicht zum Ziel.

Was ich als Grundbildung in der Schule erlebe, ist eine unglaubliche Vereinheitlichung. Denn eigentlich sind doch ganz andere Fähigkeiten gefragt, um ein erfülltes Leben zu führen. Dafür braucht es Empathie, Mut, Vertrauen, Engagement, Kreativität, Resilienz, Selbstvertrauen und Beweglichkeit. Ich forsche daran, wie Bildungslandschaften aussehen müssten, die eine Entwicklung dieser Fähigkeiten unterstützen.

Das frage ich mich auch. Wie kann eine Utopie von frei lernenden Menschen nicht nur für einzelne in der Nische gelebt werden, sondern gesellschaftlich relevant werden?

Als konsequenter Autodidakt lehne ich Schulpflicht ab. Und wenn die aufgehoben wäre, könnten Menschen nach Wegen suchen, wie es anders gehen könnte. In dem Film »Caraba« haben wir das versucht. Eine wesentliche Inspiration dafür war das Grundlagenwerk »Entschulung der Gesellschaft« von Ivan Illich aus den 60er Jahren. Er zeigt umfangreiche Möglichkeiten für eine Gesellschaft ohne Schulen auf.

Nun laufen in Deutschland die Schulen langsam wieder an, wenn auch mit begrenzten Zeiten. Mir scheint, dass viele Schüler sich darauf freuen, ihre Freunde wiederzutreffen. Nur befürchte ich, dass diese Stimmung nicht lange anhalten wird. Nicht zuletzt, weil die Abstandsregelungen eine Distanz schaffen und nicht unbedingt ein Lernen fördern, wie es Spaß macht und wie ich es mir wünschte: Dass Schüler nämlich individuelle Anleitungen nach dem Motto bekommen: »Hilf mir, es selbst zu tun« - und zwar ohne nervigen Leistungsdruck.

Ich hoffe, dass die Coronakrise trotz all den lebensfeindlichen Maßnahmen, dem einen oder anderen jungen Menschen zeigt, dass Lernen auch ohne Schule geht. Viele merken ja intuitiv, dass die schulischen Leistungen total weltfremd sind und der ständige Druck lähmend wirkt. Aber ich merke auch, dass viele nicht mehr einfach so artig mitmachen. Das ist meine größte Hoffnung, dass wie bei »Fridays for Future«, die jungen Menschen aktiv werden und sich neben dem Umweltschutz auch für nachhaltige Bildung einsetzen, - das heißt für mich, sich selbst ernst zu nehmen und Räume für seelische Entfaltung zu kreieren.

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