Unbewacht im Roten Ochsen

Fluchtversuch des Attentäters von Halle / Sachsen-Anhalts Rechtsausschuss tagt

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Attentäter von Halle, der im Oktober 2019 schwer bewaffnet in die voll besetzte Synagoge der Stadt hatte eindringen wollen und nach dem Scheitern des Plans zwei Menschen erschoss, ist am Pfingstsamstag unbewacht in der Justizvollzugsanstalt »Roter Ochse« der Saalestadt unterwegs gewesen. Stephan B. habe sich »etwa fünf Minuten unbeaufsichtigt im Innenbereich der Anstalt bewegt«, hieß es in einer Mitteilung des Justizministeriums von Sachsen-Anhalt, die lapidar mit »Vorfall in der JVA Halle« überschrieben war. Daraus geht auch hervor, dass das von CDU-Ministerin Anne-Marie Keding geführte Haus erst zweieinhalb Tagen später informiert wurde. B. ist mittlerweile in das Gefängnis Burg verlegt worden.

Landespolitiker wie auch die Jüdische Gemeinde in Halle reagierten fassungslos. »Das ist unfassbar, dass er es fast geschafft hat«, sagte der Gemeindevorsitzende Max Privorozki der Nachrichtenagentur dpa. Sebastian Striegel, Landeschef der Grünen, erklärte: »Für Betroffene des Terroranschlags ist das unerträglich.« Eva von Angern, Rechtsexpertin der Linken im Landtag, sieht eine »Blamage für Sachsen-Anhalt«. Die SPD-Abgeordnete Silke Schindler sagte, während sich die »nationale und internationale Aufmerksamkeit« auf den anstehenden Prozess gegen B. richte, »entsteht der Anschein, dass Sachsen-Anhalts Justizvollzug den Angeklagten nicht sicher verwahren kann«. Das Oberlandesgericht Naumburg hatte kürzlich mitgeteilt, es werde im Laufe dieses Monats über die Eröffnung des Hauptverfahrens entscheiden, und den 21. Juli als möglichen ersten Verhandlungstermin genannt.

B. hatte nach Angaben des Ministeriums am Samstag gegen 13:50 Uhr einen Zaun im Freistundenhof überklettert. Dieser soll 3,50 Meter hoch sein. Als er kurz danach wieder in Gewahrsam genommen wurde, habe er keinen Widerstand geleistet. Laut Ministerium hatte B. aber die Absicht zu fliehen. Als eine erste Reaktion wurden die für die Aufsicht zuständigen Beamten versetzt. Eigentlich, hieß es, dürfe sich B. »nach Erlasslage« außerhalb seiner per Kamera überwachten Zelle nicht ohne Aufsicht bewegen. Keding hatte am Mittwoch die Führung der JVA zum Rapport einbestellt. Eine der zu klärenden Fragen sei die verspätete Information des Ministeriums.

Auch der Rechtsausschuss des Parlaments wird sich in einer Sondersitzung, die für nächsten Donnerstag anberaumt ist, mit der Angelegenheit beschäftigen. Dabei zeichnen sich bereits koalitionsinterne Reibereien ab. SPD und Grüne üben Kritik an der zuständigen Ministerin. Schindler zeigte sich unter Hinweis darauf, dass die Abgeordneten vom Fluchtversuch aus der Presse erfuhren, »befremdet über das Informationsverhalten« des Hauses. Striegel schrieb auf Twitter, er »hoffe, dass im Justizministerium bereits Vorbereitungen getroffen werden« für die Sitzung. Die »Mitteldeutsche Zeitung« zitiert ihn mit der Feststellung, »politisch verantwortlich« sei die Justizministerin. Kedings Parteifreund Jens Kolze, Innenexperte der Fraktion, lenkte die Kritik dagegen auf die Leitung der JVA. Diese solle »einen umfassenden und minutiösen Bericht« vorlegen. B. habe den Zaun »trotz der eindeutigen Weisung des Ministeriums« zu seiner Unterbringung überklettert. An die Adresse der Koalitionspartner gerichtet, äußerte er die Erwartung, sich »mit politischen Schuldzuweisungen zurückzuhalten«.

Das Gefängnis, in dem B. bis zu seinem durch mangelnde Aufsicht ermöglichten »Spaziergang« saß, liegt mitten in Halle, keine zwei Kilometer von der Synagoge entfernt. Diese war am 9. Oktober, an dem der höchste jüdischen Feiertag Jom Kippur begangen wurde, nur deshalb nicht zum Ort eines Massakers geworden, weil eine Holztür den Schüssen des Attentäters standhielt. Dieser ist wegen zweifachen Mordes angeklagt. Der »Rote Ochse« ist eine historische Haftanstalt. Sie ging 1842 in Betrieb. In der NS-Zeit diente sie als Hinrichtungsstätte; 549 Gefangene starben durch Fallbeil und Strang. In der DDR war er Untersuchungshaftanstalt des MfS. An die Historie erinnert eine Gedenkstätte. Die heutige JVA Halle hat 284 Haftplätze im »Roten Ochsen« und 368 in einer Nebenstelle.

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