Nach dem Schock

Im Gastgewerbe sind die Gehälter auch ohne Kurzarbeit niedrig. Forscher nennen Strategien für anständige Löhne

  • Eva Roth
  • Lesedauer: 7 Min.
Dauernd fragen Gäste: Habt ihr wieder auf? Doch das »Gasthaus Lentz« ist noch geschlossen. Fürs Foto stehen Dagi Seegestroj und Kathrin Pasold (r.) kurz hinter der Theke.
Dauernd fragen Gäste: Habt ihr wieder auf? Doch das »Gasthaus Lentz« ist noch geschlossen. Fürs Foto stehen Dagi Seegestroj und Kathrin Pasold (r.) kurz hinter der Theke.

Der Gewerkschafter Christoph Schink nennt die Lage »dramatisch«. Die Geschäftsführerin des Arbeitgeberverbands Dehoga spricht von »verheerenden Auswirkungen der Coronakrise« fürs Gastgewerbe: »Die allermeisten Betriebe kämpfen um ihre nackte Existenz«, sagt Sandra Warden.

Hotels, Restaurants und Cafés haben im März und April für 1,05 Millionen Beschäftigte Kurzarbeit angemeldet - das heißt: für fast alle der 1,1 Millionen Menschen, die in der Branche einen sozialversicherungspflichtigen Job haben. Warden geht davon aus, dass ein »hoher Anteil« tatsächlich in Kurzarbeit ist, genaue Daten liegen noch nicht vor.

Die eine Million Minijobber, die vor der Krise ebenfalls im Gastgewerbe tätig waren, haben keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld, weil sie nicht arbeitslosenversichert sind. Viele haben ihre Stelle verloren, bereits im März gab es in der Branche elf Prozent weniger Minijobs als im Vorjahr.

Im Gastgewerbe ist die Situation auch deshalb dramatisch, weil der Anteil der Niedriglohn-Beschäftigten mit 57 Prozent so hoch ist wie in keiner anderen Branche. Das Monatsgehalt von Fachkräften liegt um 1200 Euro niedriger als im bundesweiten Durchschnitt.

Jetzt haben viele noch weniger Geld. Christoph Schink, der bei der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) fürs Gastgewerbe zuständig ist, nennt ein Beispiel: Eine Köchin in Berlin erhält knapp 2200 Euro brutto, sofern sie nach Tarif bezahlt wird und eine volle Stelle hat. Wenn sie keine Kinder hat und auf Kurzarbeit Null gesetzt wird, bleiben ihr netto 918 Euro. Viele haben geringere Ansprüche, denn die Hälfte der regulär Beschäftigten arbeitet Teilzeit.

Über die finanzielle Lage von Geringverdienenden in Kurzarbeit, im Gastgewerbe und anderswo, ist bislang wenig bekannt. Ein Großteil arbeitet in nicht-tarifgebundenen Betrieben, in die auch Gewerkschaften keinen Einblick haben.

Es gibt aber Hinweise. So warnte der Sachverständigenrat für Verbraucherfragen kürzlich: Erste Meldungen deuteten darauf hin, dass Haushalte aufgrund von Einkommensausfällen nicht mehr in der Lage sind, ihre Miete oder Tilgungsraten ihres Immobiliendarlehens zu zahlen. Knapp ein Viertel der Befragten habe bereits 2018 in einer Umfrage angegeben, keine flüssigen finanziellen Rücklagen für schlechte Zeiten zu haben. Bei den Mietervereinen lassen sich immer mehr Menschen wegen Zahlungsschwierigkeiten beraten, berichtet eine Sprecherin des Deutschen Mieterbunds. Viele Beschäftigte in Kurzarbeit werden wohl auch gezwungen sein, ergänzende Sozialleistungen zu beantragen, schreibt die Hans-Böckler-Stiftung.

Die Krise verschärft die prekäre Lage von Geringverdienenden. Doch auch als die Wirtschaft noch wuchs, erhielten die Menschen bereits wenig Geld für ihre Arbeit, auch wenn sie gut ausgebildet sind und sich ebenso engagieren wie Beschäftigte etwa in der Industrie. Im Alter erhalten sie eine geringe Rente, und wenn diese via Grundrente aufgestockt werden soll, brandmarken Konservative und Arbeitgeberverbände wie Gesamtmetall dies als viel zu teuer.

Anständige Löhne sind also nicht nur eine Frage von Fairness. Sie tragen auch dazu bei, dass der Staat weniger Menschen in Krisen und im Alter vor existenzieller Not bewahren muss. Der Sozialforscher Gerhard Bosch von der Uni Duisburg-Essen plädiert schon lange dafür, den Niedriglohnsektor »auszutrocknen«. Nicht nur Beschäftigte wie Pflegekräfte in Kliniken, die jetzt als »systemrelevant« bezeichnet werden, sollten besser vergütet werden. Dieses Wort »hat etwas Spalterisches«, sagt Bosch. Auch Menschen im Gastgewerbe und Reinigungskräfte in Krankenhäuser sollten höhere Gehälter erhalten. Dabei gibt es unterschiedliche Wege, um anständige Löhne durchzusetzen. Eine Auswahl:

Der Staat nutzt seine Marktmacht: Bund, Länder und Kommunen vergeben an Firmen Aufträge in einem erheblichen Volumen. Geschätzt wird, dass diese Aufträge rund 15 Prozent des Bruttoinlandprodukts ausmachen. Wenn alle Firmen, die öffentliche Aufträge erledigen, ihre Belegschaft ordentlich bezahlen, wäre einiges erreicht. Der Deutsche Gewerkschaftsbund fordert denn auch umfassende Tariftreueregeln: »Öffentliche Aufträge von Bund und Ländern müssen künftig ausschließlich an Unternehmen gehen, die Tarifträge anwenden«, sagte DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell dem »nd«. »Der Staat, der Aufträge an nicht tariftreue Betriebe vergibt, macht sich zum Komplizen beim Lohndumping. Wir brauchen kein Bedauern der Politik, weil die Tarifbindung zurückgeht. Wir brauchen eine Politik, die mit gutem Beispiel voran geht.«

Solche weitreichenden Tariftreuevorschriften wurden über Jahre ausgebremst, insbesondere durch wirtschaftsliberale EU-Regeln. Berühmt-berüchtigt wurde eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) von 2008. Demnach darf ein öffentlicher Auftraggeber einem ausländischen Unternehmen zwar vorschreiben, dass es sich an den gesetzlichen Mindestlohn hält, nicht jedoch, dass es in jedem Fall den Branchentarif zahlt, erläutert der Bremer Arbeitsrechtsprofessor Wolfgang Däubler.

Inzwischen wurde die Arbeitnehmerentsende-Richtlinie, auf die sich der Gerichtshof stützte, geändert, sagt die DGB-Fachfrau für Tarifpolitik, Ghazaleh Nassibi. Die Politik hat jetzt mehr Spielraum, Arbeitnehmerschutz von Firmen zu fordern. Mittlerweile haben die meisten Bundesländer Tariftreue-Klauseln, allerdings gelten die oft nur für öffentliche Aufträge in einzelnen Branchen wie dem Nahverkehr. Auf Bundesebene gebe es noch gar nichts, so Nassibi. Immerhin wolle Arbeitsminister Heil dies ändern. Das Land Berlin hat hingegen kürzlich sehr weitreichende Tariftreuevorschriften beschlossen.

Bei großen Aufträgen, die EU-weit ausgeschrieben werden müssen, sei derzeit noch fraglich, ob der Europäische Gerichtshof strenge Tariftreuereglungen für rechtmäßig befindet, sagte Däubler dem »nd«. Die Politik könnte es aber riskieren, auch hier Tarifvorgaben zu machen. Denn der EuGH sei zwar »stockkonservativ«, weil die meisten Richter von konservativen Regierungen benannt wurden. Die Richter hätten jedoch in den vergangenen Jahren »mehr Verständnis für Arbeitnehmerinteressen entwickelt«, so Däubler. »Vermutlich haben sie gemerkt, dass die Bürger hie und da auch mal positive Erfahrungen mit der EU machen müssen. Sonst wird es mit der Krise immer schlimmer.«

Französische Verhältnisse: In Gastgewerbe in Bremen ist der Tarifvertrag allgemeinverbindlich: Alle Bremer Hotels und Gaststätten müssen die Beschäftigten nach Tarif bezahlen. Das ist hierzulande die Ausnahme. Oft lehnen es Arbeitgeberverbände ab, einen Tarifvertrag auf eine ganze Branche auszuweiten. »Der Staat muss massiver vorgehen«, sagt Bosch. Er verweist auf Frankreich, wo die meisten Tarifverträge allgemeinverbindlich sind, und die meisten Arbeitgeber befürworteten dies. Ähnliches gelte für die Niederlande und Belgien. Warum sollten sich deutsche Firmen nicht auch mit dieser Regelung anfreunden, wenn sie erst mal durchgesetzt ist?

Neue Mindestlohn-Strategie: In Deutschland muss der Mindestlohn im Normalfall nachlaufend die Tariflohnentwicklung abbilden, »dazu braucht man keine Kommission«, sagt der Volkswirt Stefan Sell von der Hochschule Koblenz. Nehme man den Bedarf der Beschäftigten zum Maßstab, müsse der Mindestlohn stärker steigen als bisher. Wie stark er aus volkswirtschaftlicher Sicht angehoben werden kann, sollte die Mindestlohn-Kommission eruieren, indem sie etwa die Beschäftigungseffekte ständig beobachtet. Dies geschehe in Großbritannien systematisch, hierzulande tue die Kommission dies nicht ausreichend. Im Ergebnis führe das zu politischen Debatten, in denen jeder alles behaupten kann, zum Beispiel, dass der Mindestlohn sinken muss.

Regionale Räte: Dass die Arbeitsbedingungen in Schlachthöfen miserabel sind, ist lange bekannt. Passiert ist jahrelang nichts. Der Soziologe Klaus Dörre von der Uni Jena schlägt darum vor, auf lokaler Ebene die Lohndebatte zu führen: Regionale Arbeits- und Umwelträte könnten Empfehlungen abgeben, wie hoch in Städten und Kreisen Löhne sein müssen, damit man damit gut leben und auch teure Bio-Lebensmittel kaufen kann. Auf diese Weise, meint auch Bosch, könnten neue Bündnisse entstehen, und die Lohnfrage politisiert werden.

Selber machen: Man kann Gewerkschaften kritisieren, weil sie Niedriglöhne zulassen. Man kann auch mitmachen, damit sie stärker werden. »Wir laden alle Beschäftigen ein, Gewerkschaftsmitglied zu werden«, sagt Schink. Im März seien die Eintrittszahlen bereits gestiegen.

Wer zahlt? Wenn es ein gesellschaftliches Interesse an anständigen Löhnen für die Altenpflege und andere Arbeiten im Sozial- und Gesundheitswesen gibt, ist es naheliegend, diese über Sozialbeiträge und Steuern zu finanzieren. Und wie wären höhere Gehälter im Gastgewerbe möglich? Welche Löhne gezahlt werden könne, hänge von vielen Faktoren ab, so Dehoga-Geschäftsführerin Warden. Dazu zählten die klein- bis mittelständische Branchenstruktur, die Wettbewerbssituation, die Produktivität - und die Preise.

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