Rationale Riots, politische Plünderungen

Nach Joshua Clover ist der Aufstand in den USA Ausdruck grundlegender sozialer Missstände und der Krise des Kapitalismus.

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.

Woher kommt die Gewalt bei den derzeitigen Demonstrationen nach dem Tod von George Floyd? Allenthalben wird aufgestaute Wut konstatiert, die jetzt unkontrolliert ausbricht. Die nicht mehr endenden Riots in amerikanischen Städten scheinen Ausdruck einer irrationalen, kaum mehr steuerbaren Bewegung zu sein, deren Akteure spätestens mit den Plünderungen, die überall fester Bestandteil der dezentralen Aufstände sind, das politische Ziel - nämlich gegen Rassismus zu demonstrieren - völlig aus den Augen verlieren. Einer solchen allgemeinen, in vergangenen Jahren zu Riots immer wieder geäußerten Ansicht widerspricht der kalifornische Literaturwissenschaftler und Lyriker Joshua Clover, der 2016 unter dem Eindruck der transnationalen Protestbewegungen mit »Riot, Strike, Riot - The new Era of Uprisings« eine Theorie des Aufstands vorlegte. Clover geht nämlich davon aus, dass den Riots, wie wir sie in den vergangenen Jahrzehnten in den Ballungsräumen der Industrienationen erlebt haben, durchaus eine Rationalität innewohnt, die in den Plünderungen ihren direktesten Ausdruck findet.

Der Riot, so Clover, war in der Vergangenheit immer eine Möglichkeit, die eigene Reproduktion sicherzustellen. Das geschah in den Brotpreisrevolten der frühen Neuzeit direkt auf den Märkten, wo Waren angeeignet und Preise neu ausgehandelt wurden. Der politische Kampf fand in der Sphäre der Zirkulation statt. Das änderte sich mit der Industrialisierung und der organisierten Arbeiterbewegung, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Streik in der Sphäre der Produktion agierte. Mit dem Ende des Fordismus und der Auslagerung der Produktion an Standorte im Globalen Süden, was vor allem in den deindustrialisieren Zonen der USA eine große Rolle spielt, entsteht eine immer größere Menge an Überflüssigen, die nicht in Lohnarbeitsverhältnissen stehen. Dieses Surplus-Proletariat, so Clover, ist Träger und Akteur sich ausbreitender Revolten, die nun wieder - wie schon in der frühen Neuzeit - in der Sphäre der Zirkulation stattfinden. In der Fabrik wird nicht mehr gekämpft, stattdessen werden Innenstädte und Orte des Konsums zu den Schauplätzen sozialpolitischer Kämpfe. Die Plünderung, gerade auch die Aneignung des emblematischen Flachbildfernsehers, sieht Clover als politökonomischen Kern des Riots, in dem die Reproduktion des prekarisierten Surplus-Proletariats jenseits des Lohnarbeitsverhältnisses ihren Ausdruck findet. Im Unterschied zu den Revolten der frühen Neuzeit, als die Ökonomie auf den Märkten - auch die agrarische Produktion im Hinterland - in unmittelbarer Nähe war, der Staat jedoch allenfalls in Form weniger Beamter Präsenz zeigte, ist heute die ausgelagerte Ökonomie weit weg, der Staat in Form der Polizei jedoch omnipräsent. Das ist auch ein Grund, warum die Polizei stets direkter Gegner ist.

Diese ökonomiefixierte Interpretation Clovers ist diskussionswürdig, thematisiert aber die in der aktuellen Berichterstattung allzu oft vernachlässigte soziale Komponente der Proteste. Wobei in amerikanischen Medien mittlerweile weit mehr als hierzulande darauf eingegangen wird, dass die aktuellen Auseinandersetzungen auf der Straße auch Ausdruck ganz grundlegender sozialer Missstände und einer historischen Krise sind, die mit der Massenarbeitslosigkeit infolge der Corona-Pandemie zu tun haben. Unter den Folgen dieser sozialen Krise haben People of Color weit mehr zu leiden als Weiße. Für Clover sind die Prekarisierung des Surplus-Proletariats, die Krisen des Kapitalismus und Rassismus aber gar nicht voneinander zu trennen, sondern eng miteinander verzahnte Phänomene. Insofern bieten seine Thesen für die aktuelle Situation durchaus interessante Erklärungsansätze.

Laut Clover spielt das Thema Rassismus in den politischen und medialen Diskursen zu Riots in den USA generell und auch historisch eine zentrale Rolle. Neben den rassistischen und mitunter gewalttätigen Polizeikontrollen gegen People of Color ist deren Klassenzugehörigkeit immer mit rassistischen Ausschlussmechanismen verschränkt. Zum anderen werden Riots von vielen Politikern als Ausdruck einer animalischen, unzivilisierten schwarzen Menge rassistisch diffamiert. Vor allem in den 1960er und 1970er Jahren wurden auf diese Weise die sozialpolitischen Motive derartiger Aufstände negiert. Ob sich an diesem Fokus aktuell unter Umständen auch etwas verschiebt, weil Donald Trump nun vor allem linksradikale Kräfte als Feindbild ausmacht, bleibt abzuwarten. Die Plünderungen werden medial nach wie vor als unpolitische Randale verurteilt, die den Protesten die moralische Legitimation entzieht. Joshua Clover, um dessen Person im vergangenen Jahr eine Kontroverse entstand, weil er sich abfällig über Polizeibeamte geäußert hatte und ihnen sogar den Tod wünschte, twitterte vor ein paar Tagen: »Plündern ist eigentlich eine gute Sache.«

Joshua Clover: »Riot, Strike, Riot - The new Era of Uprisings«, Verso Books.

Die Einleitung von »Riot, Strike, Riot - The new Era of Uprisings« erschien auf Deutsch im Sammelband »RIOT - Was war da los in Hamburg? Theorie und Praxis der kollektiven Aktion«, Laika-Verlag.

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