nd-aktuell.de / 08.06.2020 / Kultur / Seite 10

Geschichten, die in den Dingen stecken

Alltagsgegenstände aus der DDR werden in dem Berliner Objekttheaterprojekt »Was bleibt« zu Erzählungen

Tom Mustroph

Eigentlich hätte »Was bleibt« in einer Runde von Menschen in Altenheimen, Begegnungsstätten, Kulturhäusern und Theatern stattfinden sollen. Dorthin wollte die Gruppe El Solar in Zusammenarbeit mit der Berliner Schaubude ihre Sammlung von Objekten und Geschichten aus der alten DDR bringen. El Solar bereift sich als eine Agentur von »Objektdetektiven«, die ihr Publikum mit der Präsentation von Alltags-Trouvaillen zum Erzählen eigener Geschichten und zum Einbringen neuer Objekte stimulieren will.

Dann kam Covid-19 - und Begegnungen waren nur noch sehr eingeschränkt möglich. Also verlagerte El Solar seine Auftritte ins Internet. Auf der Website wasbleibt-schaubude.com sieht man nun Fotos und Erzählungen eines stetig anwachsenden Archivs der Dinge und Videosequenzen, in denen Zeitzeugen anhand von Objekten aus ihrem Leben erzählen.

In diesem Archiv der Dinge fallen sofort die Bücher auf, typisch als fürs »Leseland DDR«. Michail Bulgakows »Der Meister und Margerita« ist dabei, aber auch »Schnick-schnack-Dudelsack. Alte und neue Kinderreime«. Dieses Kinderbuch richtete Kinderreime, die älter als die DDR waren, offenbar auf das Leben im Sozialismus aus. Denn Marianne, die das Buch ins Archiv einbrachte, erzählt nicht nur von den hübschen Apfelbäumchen in ihrem Garten, die den Illustrationen im Buch glichen, sondern zeigt auch die Zeichnung eines Traktors, der »meinen Kinderglauben an die fortschrittlichste Landwirtschaft der Welt in der heranwachsenden DDR« befördert habe.

Im »Was bleibt«-Archiv befindet sich auch ein Metallwimpel mit der Aufschrift »Der Sozialismus siegt«, der ebenfalls von Marianne eingebracht wurde. Er stammt ursprünglich von einem Traktor, der Ende 1989 gemeinsam mit anderen Landmaschinen auf einem Acker vor sich hin rostete. Der Wimpel markiert nun das Ende der einstmals »fortschrittlichsten Landwirtschaft der Welt«.

Ein Abreißkalender hat es ebenfalls ins Archiv geschafft. Das erste Blatt zeigt den 25. Oktober 1989 an - den Tag, an dem die Besitzerin des Kalenders ihre Wohnung verließ, nachdem ihr Ausreiseantrag in den Westen bewilligt worden war. Kurz nach dem Mauerfall kehrte diese Frau in ihre Wohnung zurück und holte den Kalender. Später landete er im »VEB Orange«, dem Laden mit Möbeln, Geschirr, Textilien und anderen Objekten aus DDR-Produktion, den Mario in der Oderberger Straße in Berlin-Prenzlauer Berg eingerichtet hat. In einer Videosequenz erzählt Mario über sein Aufwachsen in der DDR. Fotos zeigen ihn als Punk in Berlin. Seinen alten Radiowecker, produziert in Ruhla, hat er ebenfalls dabei. Aufs Ziffernblatt hatte seine damaligen Lieblingsbands geschrieben, die erste war AC/DC. Und auch an die Gerüche erinnert sich, er hat sogar die Neuproduktion eines alten DDR-Deos aus der der »Action«-Serie dabei.

Sind die Erinnerungen bei Mario eher fröhlich konnotiert, so durchzieht das Video von Silvia tiefe Melancholie. Während die von innen erleuchteten Waggons einer Modelleisenbahn durch die dunkle Nacht fahren, erinnert sie sich an ihre alte Wohnung in Nähe der Mauer. Die hatte einen sogenannten »Winkbalkon«. »Immer, wenn jemand die DDR verlassen konnte, einen Ausreiseantrag hatte, und den hatten ja viele in der Theater- und Kulturszene laufen, dann kamen Freunde und Angehörigen zu uns, denn sie konnten von hier aus winken, während die anderen drüben auf dem Westbahnsteig standen«, erzählt Silvia. Niemand, weder die Winkenden auf dem Balkon, noch die, die auf dem Bahnsteig in Richtung Aufnahmelager standen, wussten damals, ob sie sich je wiedersehen würden.

Ob der Abreißkalender, den Mario hatte, einst einer Frau gehörte, deren Freunde ihr vom Balkon von Silvia aus bei der Ausreise zuwinkten, erschließt sich nicht. Aber sofort beginnen Erzählfäden sich zu verweben. Gut möglich, dass auch der Traktorist, an dessen Arbeitsgerät der Metallwinkel hing, früh morgens von einem Wecker aus Ruhla geweckt wurde. Oder dass seine Freundin sich in »Action«-Deo-Wolken einhüllte.

»Was bleibt« ist eine gelungene Verlagerung eines Objekttheaters in die virtuelle Welt einer Website. Objekt-Archiv und Videoerzählungen werden in wöchentlichem Rhythmus ergänzt. Einen gewissen Vorrat an Dingen und Geschichten haben die Künstler*innen schon. Doch eigentlich ist das Archiv unendlich. »Gerne kann man Fotos und Geschichten auf die Website hochladen«, erzählt Anya Deubel, Berliner Mitstreiterin von El Solar.

»Was bleibt« ist die Fortsetzung eines anderen Objekttheaterprojekts. Beim »Tagebuch zwischen den Zeilen« lud El Solar vor zwei Jahren in einen Weinsalon in Berlin-Friedrichshain ein und machte dort Kaffeekannen, Modelleisenbahnen und Nussknacker aus volkseigener Produktion zu Auslösern von Erzählungen. Aus den anschließenden Publikumsdiskussionen, die sich meist daran entzündeten, dass einzelne Zuhörer die Objekte im Stück als solche erkannten, die auch bei ihnen zu Hause standen, entwickelte sich dann die Idee, diese Erinnerungen stärker in die künstlerische Arbeit einzubeziehen.

https://wasbleibt-schaubude.com/ 2020/05/20/projekt/