nd-aktuell.de / 13.06.2020 / Politik / Seite 32

»Nichtstun ist auch keine Lösung«

Stella und Sophie fördern mit dem Netzwerk Selbsthilfe kleine selbstorganisierte Strukturen. Damit wollen sie das solidarische Miteinander stärken

Inga Dreyer

Wie funktioniert eure Netzwerk-Arbeit momentan?
Stella: Unter Corona-Bedingungen haben wir Online-Sitzungen und jetzt auch den ersten Online-Förderbeirat. Prinzipiell bleiben die Förderung und auch unsere Gremienabläufe bestehen. Wir können das ganz gut ins Virtuelle übertragen.

Sophie: Am Anfang war es noch etwas holprig. Denn unser Hauptgedanke ist ja, Projekte zu vernetzen und ihnen beratend zur Seite zu stehen. Es geht schon um direkte Interaktion. Aber mittlerweile haben wir jedes Angebot, das wir machen, digital ausprobiert. Wir fördern ja nicht nur finanziell, wir bieten auch Beratungen und Workshops zum Thema Fundraising. Wir sind gerade dabei, das auszubauen, weil unklar ist, wie lange die Pandemie anhält.

Kann sich jede*r um eine Förderung bewerben?
Stella: Man sollte schon gucken, dass das Projekt zu unseren Inhalten passt. Wir sind in erster Linie an linksalternativer politischer Arbeit interessiert. Wir sind ein kleiner Förderfonds und geben nur Beträge bis 1100 Euro. Das heißt, das Projekt sollte noch von anderer Seite finanziert werden.

Sophie: Es sei denn, es ist ein kleines Projekt. Einer unserer Schwerpunkte ist, dass wir emanzipative Gruppen und Initiativen fördern, die sonst nirgendwo Geld bekommen könnten, weil bürgerliche Institutionen oder öffentliche Mittel nicht infrage kommen.

Was für Projekte sind das?
Stella: Wir fördern linksalternative Projekte und sind dabei unabhängig von jeder parteipolitischen Agenda. Ein Beispiel ist Stadtpolitik. Das war lange Zeit unser Förderschwerpunkt - und in diesem Bereich hat sich auch wirklich etwas bewegt.

Sophie: Wir haben größere Bündnisse wie die Mietenwahnsinns-Demo mit gefördert oder auch kleinere Initiativen von Mieter*innen, die Info-Flyer zum Thema gemacht haben: »Wie leiste ich Widerstand bei Eigenbedarfskündigungen?« Wir unterstützen aber auch andere selbstorganisierte feministische oder antifaschistische Gruppen in Berlin und Brandenburg. Wir haben beispielsweise die anarchistische »Bibliothek der Freien« oder eine Ausstellung über den Anarchisten Gustav Landauer unterstützt. Solche Projekte haben es sehr schwer, an Fördermittel zu kommen. Es gibt keine öffentlichen Programme, die »Anarchismus gestern und heute« heißen.

Die Fördermittel stammen aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden von Projekten und Einzelpersonen. Viele haben selbst wenig Geld. Ist es schwierig, den Topf zu füllen?
Sophie: Ich glaube, das Hauptproblem bei Projekten ist oft, dass sie gar nicht auf dem Schirm haben, dass sie bei uns Mitglied werden können. Gerade bei jüngeren Strukturen oder solchen, die sich von Projekt zu Projekt hangeln, bleibt meist nicht so viel Geld übrig. Wir versuchen dann zu sagen: Wenn ihr euch irgendwann dauerhaft aufstellt und eine jährliche Förderung bekommt, denkt daran: Ihr könnt wieder etwas ans Netzwerk zurückgeben.

Stella: Ein anderes Problem ist, dass wir neue Mitglieder brauchen. Diejenigen aus der Gründerzeit Ende der 70er sind entweder schon älter - oder gar nicht mehr am Leben. Wir hatten zu Beginn mal fast 4000 Mitglieder, jetzt sind es knapp 400. Viele Leute wissen wahrscheinlich gar nicht, dass es uns gibt - und dass man nicht nur als Einzelperson, sondern auch als Initiative Mitglied werden kann.

Wie seid ihr zum Netzwerk gekommen?
Sophie: Ich wollte unbedingt ein Praktikum im politischen Bereich machen, wusste aber nicht, wo, weil mich so viele Themen interessieren. Eine Freundin hat mich aufs Netzwerk Selbsthilfe aufmerksam gemacht. Das schien mir die perfekte Möglichkeit, um ganz viele Projekte zu unterstützen und kennenzulernen. Nun bin ich immer noch da und finde die Arbeit unfassbar gut und wichtig - gerade jetzt.

Stella: Ich habe mein Abitur an der Schule für Erwachsenenbildung gemacht - eine selbstverwaltete Schule, die aus linken Strukturen entstanden ist. Das war für mich die einzige Möglichkeit, mich zu entfalten und Bildung auch als Selbstzweck zu erfahren. Für mich ist es wichtig, solche Strukturen zu erhalten. Das Netzwerk Selbsthilfe kann dazu beitragen.

Wie steht es im Moment um politische Projekte in Berlin?
Sophie: Ich bin bei der Seebrücke aktiv, die sich für Seenotrettung im Mittelmeer einsetzt. Das kann man nicht so gut mit anderen politischen Kämpfen vergleichen, weil die Bewegung gerade sehr viel in der Öffentlichkeit organisiert - natürlich unter Einhaltung der Sicherheitsmaßnahmen. Die Pandemie ist eng mit dem Schicksal von Flüchtenden und Illegalisierten und der Situation an den EU-Außengrenzen verstrickt. Ich glaube, deshalb ist viel öffentliche Wahrnehmung da.

Welche Projekte leiden unter der Coronakrise?
Stella: Wer keine öffentliche Förderung bekommt, sondern auf Spenden und Soli-Veranstaltungen angewiesen ist, hat jetzt keine Einnahmen. Auch Projekte, die von den Einnahmen ihrer Cafés oder Übernachtungen abhängig sind, sind massiv betroffen. So die Regenbogenfabrik in Kreuzberg, ein selbstverwaltetes Kinder-, Kultur- und Nachbarschaftszentrum, oder das Tagungshaus Wernsdorf in Brandenburg. Wir haben für unsere Mitglieder einen kleinen Soli-Fonds für Soforthilfe eingerichtet. Man kann bis zu 500 Euro beantragen. Einige Projekte werden auch gut durch Spenden unterstützt. Aber die Solidarität darf jetzt nicht abebben.

Herrscht gerade Frust in den Projektgruppen - oder stürzen sie sich in alternative Mobilisierungsformen?
Sophie: Man muss sich darauf einstellen, sich andere Formen des politischen Protests zu überlegen. Bei der Seebrücke wurde bundesweit zu mehreren Aktionstagen aufgerufen. Es gab auch schon Online-Demonstrationen, an denen mehrere Tausend Menschen teilgenommen haben. Total cool. Per Livestream läuft man zu verschiedenen Social-Media-Kanälen von politischen Organisationen und lässt gemeinsam seine Kommentare da.

Stella: Mega Idee. Ich finde, dass da ganz viel Kreativität freigesetzt wird. Beispielsweise auch bei Protesten, bei denen mit leeren Schuhen auf der Straße an Geflüchtete in griechischen Lagern erinnert wurde.

Sophie: Es wird einem andererseits aber schwer gemacht, den öffentlichen Raum für Protest zu nutzen. Das finde ich tatsächlich ziemlich krass. Nicht nur bei den Schuh-Aktionen werden Leute rausgezogen - es werden Platzverweise und Bußgelder verteilt, obwohl auf die Sicherheitsbestimmungen geachtet wurde. Gleichzeitig haben wir seit Wochen Anhänger*innen von Verschwörungsideen und extrem Rechte, die sich in vielen Städten zu Hunderten treffen und ganz bewusst auf Sicherheitsmaßnahmen verzichten - bei denen aber passiert nichts. Das ist tatsächlich ein frustrierender Punkt, weil man sich fragt: Wo setzen Politik und Polizei die Prioritäten, und wem wird erlaubt, den öffentlichen Raum zu nutzen?

In welchen Momenten empfindet ihr politische Arbeit als frustrierend?
Sophie: Wir haben ein Archiv, in dem wir die Projekte sammeln, die wir seit 40 Jahren fördern. Das ist schon ziemlich abgefahren: Vor 40 Jahren hat man für genau dieselben Sachen gekämpft. Da kriegt man schon manchmal das Gefühl: Scheiße, es geht vielleicht voran, aber in so kleinen Schritten, dass man nur die Wahl hat zwischen wütend werden oder resignieren …

Stella: Es ist eine Sisyphus-Arbeit, die niemals endet. Man muss den Stein immer wieder den Berg hochrollen, und er fällt immer wieder hinunter.

Was motiviert euch?
Stella: Bei mir ist es so: Ich bin weit weg von jeder politischen Arbeit aufgewachsen und habe erst spät aus linken Strukturen heraus Möglichkeiten bekommen, die mir sonst verwehrt geblieben wären - zum Beispiel an der selbstverwalteten Schule. Um Dinge zu verändern, müssen Strukturen aufrechterhalten werden - damit andere wieder davon profitieren können.

Sophie: Was mich motiviert? Naja, Nichtstun ist auch keine Lösung. Die Arbeit vom Netzwerk ist schön und empowernd, weil du dadurch siehst, wie viele Projekte es gibt und wie viel da passiert. Es gibt viele Strukturen, die nicht so öffentlichkeitswirksam arbeiten, aber permanent dafür sorgen, dass man diesem sogenannten Rechtsruck etwas entgegensetzt - sei es durch antirassistische, feministische, stadt- oder umweltpolitische Arbeit. Da hat man das gute Gefühl, dass es noch Menschen gibt, die für eine bessere Welt kämpfen.

Interview: Inga Dreyer