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Mikado spielen für Notre-Dame

Aufgrund der Corona-Pandemie verzögert sich der Wiederaufbau des Pariser Wahrzeichens

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 6 Min.

Während der Coronapandemie ruhte auch die Baustelle der Pariser Kathedrale Notre-Dame, deren Dachstuhl in der Nacht vom 15. zum 16. April 2019 durch einen spektakulären Brand vernichtet wurde. Seit Anfang Juni wird hier wieder gearbeitet. Am 8. wurde eine wichtige Etappe eingeleitet, von der abhängen wird, wann mit dem eigentlichen Wiederaufbau begonnen werden kann.

Es geht um die Demontage des 200 Tonnen schweren Gerüsts, das vor dem Inferno über dem Dach aufgebaut wurde, weil der Spitzturm über der Kreuzung von Längs- und Querschiff restauriert werden sollte. Dieser »Flèche« - Pfeil - genannte Turm ist bei dem Brand in sich zusammengebrochen. Seine Trümmer haben an zwei Stellen das Gewölbe der Kathedrale durchschlagen. Das aus 40 000 Rohren zusammengeschraubte Gerüst hat sich durch die Hitze des Feuers an vielen Stellen verbogen. Zahlreiche Rohre sind regelrecht miteinander verschmolzen. Jetzt gilt es, dieses Stahlrohrmassiv, das in 40 Metern Höhe wie eine Riesenspinne drohend über dem Bau hängt, vorsichtig zu zerkleinern und abzutragen.

Dabei kommt es wie bei dem Spiel Mikado darauf an, keine falsche Bewegung zu machen, um nicht das ganze Stahlgeflecht unkontrolliert in sich zusammenfallen oder abstürzen zu lassen. Denn dabei würden die Reste des Gerüsts mit ihrem Gewicht zweifellos die Mauern der Kathedrale zum Einsturz bringen. Alles hängt jetzt vom Geschick der Gerüstbauer ab, die - angeseilt wie Bergsteiger - in schwindelnder Höhe mit Trennscheiben operieren, und dann natürlich vom Fingerspitzengefühl der Kranführer. Um das Gerüst Rohr für Rohr abzutragen, wurde bereits im Dezember ein 75 Meter hoher Mobilkran installiert, der bis zu acht Tonnen schwere Lasten heben kann-

Der Kran ist der größte seiner Art in Europa. Um ihn zu bedienen, wurden der 31-jährige Fahde Andani und sein Kollege Christophe Haroutiounian unter 300 Bewerbern ausgewählt. »Es ist eine große Ehre und Herausforderung für uns beide«, sagt Andani. Man habe nicht nur ihre fachlichen Fähigkeiten und ihre Gesundheit untersucht, sondern auch ganz besonders ihre Psyche. »Anders als auf einer der üblichen Baustellen kommt es hier darauf an, ganz vorsichtig wie bei einer chirurgischen Operation vorzugehen, wo es um Leben oder Tod gehen kann.«

Die Demontage, die den ganzen Sommer in Anspruch nehmen dürfte, ist seit Monaten durch dreidimensionale Computersimulation minutiös vorbereitet worden. Erst wenn das Gerüst komplett entfernt ist, wird man ein vollständiges Bild über den Zustand der tragenden Mauern haben. In den zurückliegenden Monaten wurden im Innern die Trümmer des teilweise eingestürzten Gewölbes geborgen, wegen der Einsturzgefahr oft mit Hilfe eines ferngesteuerten Roboters. Soweit sie noch zu verwenden sind, wurden die Steine so identifiziert und zwischengelagert, dass man sie später wieder an ihrem alten Platz einsetzen kann.

Für Steine, die ausgetauscht werden müssen, hat man jene Steinbrüche bei Paris ausfindig gemacht, aus denen schon vor 800 Jahren das Baumaterial kam. Um das Innere vor Regen zu schützen, wurden die Löcher provisorisch durch Holzgerüste und Planen abgedeckt. Um das empfindliche Bauwerk für die Zeit des Wiederaufbaus zu schützen, hat man viel Mühe auf die reichlich zwei Dutzend Strebewerke verwendet, die rundum außen an die Mauern angebaut sind. Durch deren Konstruktion aus Streben und Pfeilern wird der Druck der Kreuzgewölbe im Innern stufenweise nach außen und unten abgeleitet.

Unter diese Strebebögen wurden für die Zeit der Bauarbeiten hölzerne Stützen eingepasst. Auch die Giebelwände des Querschiffs mit ihren glücklicherweise unbeschädigt gebliebenen Rosetten, die noch aus dem frühen Mittelalter stammen, wurden mit Holzkonstruktionen verkleidet und abgestützt. All diese Arbeiten mussten wiederholt unterbrochen werden, wenn es »Blei-Alarm« gab. Beim Brand sind die insgesamt 350 Tonnen schweren Bleiplatten geschmolzen, mit denen das Dach gedeckt war. Das meiste davon konnte geborgen werden, doch ein Teil ist im Boden versickert oder wurde als Staub durch den Wind in die Umgebung getragen. Um Gesundheitsschäden bei Bauarbeitern, Anwohnern und Touristen vorzubeugen, musste immer dann, wenn man überhöhte Werte gemessen hatte, der Boden rund um die Kathedrale neu gereinigt und mit einer speziellen Lackschicht versiegelt werden.

Mit dem Beginn des eigentlichen Wiederaufbaus ist nicht vor Anfang 2021 zu rechnen. Bis dahin muss geklärt sein, ob der Dachstuhl und der sich darüber erhebende Spitzturm originalgetreu wiederentstehen sollen oder in modernerer Form und Bauweise. Der Dachstuhl von Notre-Dame war unter Experten weltweit berühmt, denn er bestand immer noch aus den Eichenstämmen, mit denen er vor 800 Jahren errichtet worden war. Denkmalschützer und auch viele Architekten sind dafür, ihn originalgetreu wieder aufzubauen.

Dafür benötigt man starke Eichenstämme - die sind in Frankreichs Wäldern in ausreichender Menge vorhanden. Ebenso gibt es genug Handwerker von der seit dem Mittelalter bestehenden Gilde der »Compagnons du devoir« (Kameraden der Pflicht), die nicht nur Maschinen bedienen können, sondern die auch die überlieferten manuellen Techniken pflegen und weitergeben. Aber das würde länger dauern als der Aufbau eines neuen Dachstuhls aus vorgefertigten Stahlbetonelementen, die vor Ort nur noch montiert werden müssen.

Die Zeit drängt, denn Präsident Emmanuel Macron hat in der Brandnacht - tief bewegt vom Anblick der Flammen - vor laufenden Fernsehkameras versprochen, dass die Kathedrale bis 2024 wieder aufgebaut wird. Dann finden die Olympischen Spiele in Paris statt und die Stadt steht im Zentrum des internationalen Interesses. An dieser recht knappen Frist hält Macron eisern fest, auch jetzt nach der wochenlangen Blockade durch Corona, die wertvolle Zeit gekostet hat. Außer dem Zeitfaktor spräche für die Stahlbetonvariante auch, dass sie leichter und billiger als die hölzerne ist - und feuerfest.

Aus diesen Gründen wurde nach dem ersten Weltkrieg die Kathedrale von Reims, die durch deutsche Artillerie in Brand geschossen worden war, mit einem solch zeitgemäßen Dachstuhl wiederaufgebaut. Nicht nur darüber dürfte eine - letztlich politische - Entscheidung des Präsidenten fallen, sondern auch über den neuen Spitzturm. Für den gab es schon im vergangenen Jahr einen internationalen Architektenwettbewerb. Dabei waren manche Vorschläge recht exotisch, etwa der eines Turms ganz aus Glas; mit Licht- und Spiegeleffekten im Innern.

Auch hier plädieren die Denkmalschützer, und mit ihnen viele Persönlichkeiten aus dem Kulturleben, für einen originalgetreuen Wiederaufbau. Dabei wurde dieser Spitzturm der Kathedrale erst im 19. Jahrhundert aufgesetzt. Damals stand man stark unter dem Eindruck der »Wiederentdeckung« des Mittelalters, die durch den Roman »Notre-Dame de Paris« von Victor Hugo ausgelöst worden war. Von diesem Zeitgeist getrieben hat seinerzeit der Architekt Viollet le Duc, der mit der Restaurierung der durch die Revolution von 1789 stark in Mitleidenschaft gezogenen Kathedrale beauftragt war, nicht nur diesen neogotischen Turm entworfen, sondern auch etliche romantisch-verklärte Veränderungen am Bau vorgenommen.

Dass in Sachen Notre-Dame die Entscheidung letztlich beim Staatspräsidenten liegt, ist eine französische Besonderheit. Durch die Revolution von 1789 wurde die Katholische Kirche enteignet und ihr Besitz verstaatlicht. Dadurch gehören heute fast alle Kirchengebäude der jeweiligen Stadt, die sie den Kirchengemeinden kostenlos zur Nutzung überlassen muss, andererseits für ihren Zustand verantwortlich sind und für Reparaturen oder Restaurierungen aufzukommen haben. Eine Ausnahme bilden die über das ganze Land verstreuten rund 60 Kathedralen und Basiliken, die direkt der Zentralregierung in Paris unterstehen. Unter ihnen ist Notre-Dame die wichtigste - darum ist ihr Wiederaufbau »Chefsache«.

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