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In der Krise zusammenrücken

Die Corona-Pandemie hat die Armut in Barcelona wachsen lassen. Doch in der Krise verbirgt sich auch eine Chance - für mehr Solidarität unter Nachbar*innen.

  • Julia Macher
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Schlange reicht schon eine halbe Stunde vor Öffnung bis zur Straße. Geduldig stehen etwa fünfzig Frauen und Männer mit leeren Einkaufstaschen und zwei Meter Sicherheitsabstand zueinander in der schmalen Gasse in Barcelonas Altstadtviertel Raval und warten. Hinter der halb heruntergelassenen Jalousie des Ladenlokals »La Galera« werden Obst- und Gemüsekisten zu einer improvisierten Theke aufeinandergestapelt, Hähnchenschenkel und frischer Fisch in Plastiktüten verpackt. Spenden aus der nahen Markthalle Boqueria, die der Nachbarschaftsverein Xarxa de Suport Mutu del Raval an die Wartenden vor der Tür verteilen wird.

Hajar Hoummi, eine lebhafte Frau Mitte 30, streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr und schüttelt den Kopf: »Ich bin hier im Viertel groß geworden, aber dass es einmal so vielen am Allernotwendigsten fehlt, hätte ich nicht für möglich gehalten.« Sie hievt eine Kiste mit Paprika auf den frisch desinfizierten Tisch. »Die Coronakrise hat allen gezeigt, dass unser System noch brüchiger und fragiler ist, als wir bisher glaubten. Selbst diejenigen, denen es bisher einigermaßen gut ging, sind jetzt mit dem nackten Überleben beschäftigt.«

Spanien ist nicht nur eines der EU-Länder mit den höchsten Todeszahlen, auch die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie sind verheerend. 900 000 Menschen haben bereits ihren Job verloren, bis Ende des Jahres könnte die Arbeitslosigkeit laut der spanischen Sparkassenstiftung Funcas von knapp 14,5 (März) auf über 20 Prozent klettern. Seit Mitte März der Alarmzustand ausgerufen wurde, haben sich allein in Barcelona die Anfragen nach Lebensmitteln an die Tafeln vervierfacht. Vor den Notküchen bilden sich bereits am frühen Morgen lange Schlangen. Doch Verwaltung und gemeinnützige Einrichtungen erreichen längst nicht jede*n. Im Einwandererviertel Raval sind viele auf sich allein gestellt.

Das hat auch Hajar Hoummi erfahren. Bis Mitte März hat die Buchhalterin in einer französisch-Schweizer Firma im Einkauf gearbeitet, in San Cugat, 17 Kilometer nordwestlich von Barcelona. Kurz vor Beginn der Ausgangssperre wurde ihr gekündigt. Der Grund: Sie hat kein eigenes Auto - und die Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln sei ihrem Arbeitgeber wegen des möglichen Gesundheitsrisikos zu heikel gewesen. Da sie Teilzeit arbeitete, hatte sie keinen unmittelbaren Anspruch auf Arbeitslosenhilfe. »Das hat mir buchstäblich den Boden unter den Füßen weggerissen«, erzählt sie. Plötzlich war sie mit existenziellen Fragen konfrontiert: Woher das Essen für sich und ihre vierjährige Tochter nehmen? Sie bekam Panikattacken und Angstzustände.

Vielen in ihrem Wohnblock ging es ähnlich. Das alte Ehepaar aus dem dunklen Erdgeschoss durfte von einem Tag auf den anderen selbst zum Einkaufen nicht mehr hinaus; sie gehören ebenso wie die Asthmakranke und der Herzkranke ein paar Treppen weiter oben zur Risikogruppe. Andere hatten für ein Handgeld in Restaurants oder auf Baustellen ausgeholfen und fielen mit ihren informellen Arbeitsverhältnissen durch das in Spanien ohnehin fragile Netz.

Hajar, die sich bereits zuvor in einem Mieterverein engagiert hatte, tat das Naheliegende. Gemeinsam mit Freund*innen und Bekannten trug sie die Berichte aus der Nachbarschaft zusammen. Das grundlegendste Bedürfnis war Nahrung. Also fragte man in den Bars und Restaurants, die wegen der Ausgangssperre schließen mussten, nach Lebensmitteln. Inzwischen stehen 300 Familien auf der Liste der Xarxa de Suport Mutu, fast jeden Tag kommen neue dazu. Und längst geht es um mehr als Essen.

Während Hajar Hoummi ein paar Stangen Weißbrot und eine Kiste Paprika in einen Einkaufswagen packt - eine Lieferung für ein von Migrant*innen besetztes Haus -, unterhält Sònia, die wie sie zu den Mitgründerinnen der Nachbarschaftshilfe zählt, deren kleine Tochter. Sie ist es auch, die auf Azahara aufpasst, wenn Hajar ins Büro muss: Seit Anfang des Monats arbeitet sie in der Logistikabteilung eines Medikamentenherstellers, doch Kindergärten und Schulen bleiben bis auf ein paar Ausnahmen bis zum Beginn der Sommerferien geschlossen. Dafür organisiert Hajar Stifte und Hefte für die Kinder aus der Nachbarschaft oder hilft bei den Hausaufgaben, wenn deren Eltern am Katalanisch oder Spanisch scheitern. »Wir sind keine karitative Einrichtung, sondern ein Nachbarschaftshilfswerk«, sagt Hajar. Alles wird geteilt, jede*r kann helfen - egal, woher er oder sie kommt.

Die Hälfte der Einwohner*innen des Raval stammen aus Marokko, Pakistan, den Philippinen oder anderen Ländern. Gezielt hat der Nachbarschaftsverein Menschen aus den unterschiedlichen Communitys angesprochen, als Dolmetscher und um Einblicke in die unterschiedlichen Lebenswelten zu erhalten. Rosemary von den Philippinen zum Beispiel. Bis Mitte März hat sie für eine Familie aus dem schmucken Viertel Sarrià den Haushalt besorgt und auf die beiden Kinder aufgepasst, mit regulärem Vertrag. Das ist in ihrer Branche eine Ausnahme - ebenso wie die Tatsache, dass ihre Arbeitgeber ihr auch während der Ausgangssperre den Lohn weitergezahlt haben. Viele ihrer Landsfrauen haben keine Papiere und arbeiten daher schwarz, von einem Tag auf den anderen brachen sämtliche Einnahmen weg.

Zwei von ihnen stehen heute zum ersten Mal in der Schlange vor dem Ladenlokal. Es hat angefangen zu regnen. Behutsam spannt Rosemary einen Schirm auf, führt die beiden unter einen Balkonvorsprung. Eine der Frauen ist zwei Monate mit der Miete im Rückstand und fürchtet, mit ihrem kleinen Sohn vor die Tür gesetzt zu werden. Rosemary gibt ihr die Telefonnummer eines Anwalts, der ehrenamtlich für die Xarxa arbeitet. Zwar sind während der Ausgangssperre in Spanien Räumungsklagen ausgesetzt. Doch wer mangels regulärer Papiere und Einkünfte zur Untermiete wohnt, ist auf den guten Willen des Vermieters angewiesen. Überschwänglich bedankt sich die Philippinerin für den Tipp. »Es sind fast immer Frauen, die am meisten unter solchen Krisen leiden«, sagt Hajar. »Aus Scham fragen sie erst dann um Hilfe, wenn es gar nicht anders geht.«

Einige Tage später, auch in Barcelona wurde die Ausgangssperre gelockert, trifft sich die Xarxa del Suport Mutu auf der Plaza del Pedró. Es ist ein warmer Abend Ende Mai, die ersten Bars haben draußen ein paar Tische aufgestellt. Rings um einen Brunnen spielen einige Kinder Fangen. Gemeinsam mit anderen Basisorganisationen hat das Netzwerk zu einer Demonstration aufgerufen. Der Slogan ist griffig: »Essen! Ein Dach! Papiere! Arbeit!« Ein junger Mann zieht ein paar Hundert selbst gedruckte Plakate aus einer Reisetasche. »Fuck Covidalism« steht auf einem. »Zahlt endlich das Arbeitslosengeld« auf einem anderen.

3,3 Millionen Menschen sind seit Beginn der Ausgangssperre vor mehr als drei Monaten in Kurzarbeit, die, genauso wie der Alarmzustand, am 21. Juni offiziell endet. Laut der Gewerkschaft der Angestellten im öffentlichen Dienst, CSIF, haben 40 0000 bis 50 0000 Menschen noch kein Geld bekommen - viele von ihnen stehen jetzt vor den Suppenküchen des Raval. »Uns hat bereits die Finanzkrise gebeutelt, aber verglichen mit dem, was kommt, war die ein Klacks«, sagt eine resolute Frau mit kurzen weißen Haaren und greift nach dem »Fuck Covidalism«-Plakat. »Bitte achtet auf die Sicherheitsregeln!«, ruft eine der Organisatorinnen, als der Zug sich langsam in Bewegung setzt. Doch Abstandhalten ist im Raval fast unmöglich. Die Gassen sind teils so eng, dass man sich an manchen Stellen fast das Brot von einer Häuserzeile zur anderen reichen kann.

Die Gentrifizierung hat ihren Teil zum Zusammenleben im Viertel beigetragen. In den letzten zwanzig Jahren haben sich die Mietpreise in der Altstadt verdreifacht. Mit seiner Mischung aus Designstudios, Frühstücksbars und Bioläden bewerben Reiseführer den Norden des Viertels als »Barcelonas Soho«. »Tourist, you are the terrorist«, steht auf einer Wand. »Das Wirtschaftsmodell von Barcelona ist hochspekulativ«, sagt Sònia. »Die Finanzkrise hat diese Blase damals angepikst, jetzt ist sie ganz geplatzt.« Und das spürt man im Raval mit seinem fragilen sozialen Gewebe zuerst.

»Vecina, despierta, la crisis es tu fuerza!«, skandiert eine Frau, als die kleine Demo über die Rambla del Raval zieht. Dutzende stimmen ein: »Nachbar, Nachbarin, wach auf - die Krise gibt dir Macht!« Vielleicht, glaubt Hajar, liegt in der Krise auch eine Chance. Weil viele ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation entdecken. Und: Weil sich die Nachbar*innen nach und nach ihr Viertel wieder aneignen. »Die Boqueria zum Beispiel gehört wieder uns!«, lacht sie. In den letzten Jahren hatten sich in den Gängen der berühmten Markthalle so viele Tourist*innen gedrängt, dass ein paar der Fisch- und Gemüsehändler »Fotografieren verboten«-Schilder aufstellten - und die anderen statt Tomaten, Paprika oder Aprikosen überteuerte Smoothies und Finger Food anboten. Jetzt, wo keine Tourist*innen mehr in der Stadt sind, sprechen die Händler*innen ihre Kunden wieder mit Vornamen an.

Tochter Azahara ist müde geworden, Hajar verabschiedet sich mit einem Winken. »Lange Zeit war es mir peinlich zu sagen, ich komme aus dem Raval - heute bin ich stolz darauf«, sagt sie, bevor sie in den engen Gassen des Viertels verschwindet. »Nirgends hätte ich mehr Unterstützung bekommen als hier.«

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