nd-aktuell.de / 22.06.2020 / Berlin / Seite 7

Protest gegen S-Bahn-Ausschreibung hält an

Der Bund will Berlin wegen hoher Gewinne nicht an der Bahntochter beteiligen

Nicolas Šustr

»Wir wollen die Zerschlagung nicht, denn das ist schlecht auf lange Sicht«, skandieren rund drei Dutzend Menschen vor dem S-Bahnhof Ostkreuz. Aufgerufen zu der Demonstration am Freitag hatte das Aktionsbündnis »Eine S-Bahn für alle«.

Es hält die geplante Ausschreibung der Teilnetze Stadtbahn und Nord-Süd der Berliner S-Bahn für einen großen Fehler. Bekanntlich hatte sich Rot-Rot-Grün nach langen Diskussionen Ende Mai auf ein potenziell kompliziertes Modell mit je zwei Losen pro Teilnetz geeinigt. Jeweils für Beschaffung und Wartung der benötigten Fahrzeuge sowie den Betrieb sind Einzelbewerbungen möglich. Allerdings kann auch ein Bewerber alle vier Teillose gewinnen. Dieser Tage veröffentlichte der Senat die Vorinformation auf dem EU-Vergabeportal. Somit könnte die endgültige Ausschreibung in drei bis vier Wochen konkret beginnen.

Die Kundgebung startete etwas verspätet - wegen einer Weichenstörung in Baumschulenweg. Eine Störung, die durch das verflochtene Liniennetz auf alle drei Teilnetze ausstrahlt. Sollten künftig unterschiedliche Betreiber zum Zuge kommen, müssten sich im Extremfall bis zu sieben Unternehmen koordinieren: DB Netz, DB Station & Service und die S-Bahn Berlin sind schon jetzt im Boot. Dazu kämen die bis zu vier Gewinner der Teillose.

»Hat sich im Senat oder im Abgeordnetenhaus jemand Gedanken gemacht, wer bei Zugausfällen, Polizei- oder Notarzteinsätzen in Minutenschnelle Dispositionen trifft, um Verspätungen einzuschränken oder Ausfälle zu vermeiden?«, fragt der ehemalige Reichsbahner Karl Holst. »Eine Verbesserung der gegenwärtigen Situation ist trotz dieser Rieseninvestition nicht zu erwarten«, glaubt er. Der Senat rechnet mit Ausgaben von rund acht Milliarden Euro, allerdings geht es beim Betrieb um eine Zeitspanne von 15 Jahren, bei den Fahrzeugen sogar um deren Lebensdauer von 30 Jahren.

Es könne »nicht ausgeschlossen werden, dass nach einem Betreiberwechsel in der Anfangszeit betriebliche Probleme auftreten könnten, die auf mangelnde Erfahrung in einem Netz zurückzuführen sind«, räumt der zuständige Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium Enak Ferlemann (CDU) in einer vertraulichen Vorlage für den Verkehrsausschuss des Bundestags ein, die »nd« vorliegt. »In der Regel spielen sich die betrieblichen Prozesse aber nach einer Eingewöhnungsphase ein.«

Hätte Berlin einen mehrheitlichen Anteil an der DB-Tochter, könnte nach deutschem Wettbewerbsrecht eine Ausschreibung vermieden werden. Dafür bestehe »aus Sicht des Bundes keine Veranlassung«, schreibt Ferlemann. »Eine Veräußerung würde die Wettbewerbsposition der DB Regio schwächen«, so die Begründung. Immerhin hat die S-Bahn Berlin seit dem Jahr 2000 knapp 220 Millionen Euro Gewinn abgeführt - nach Abzug der fast 360 Millionen Euro Verlust in den Krisenjahren 2009 bis 2011.

»Was durch den S-Bahn-Betrieb erwirtschaftet wird, muss in den öffentlichen Nahverkehr zurückfließen - nicht als Gewinn an Privatunternehmen gehen«, fordert Jorinde Schulz vom Bündnis »Eine S-Bahn für alle«. »Die Situation ist nicht nur die Schuld des Senats, sondern auch des Bundes«, sagt Eisenbahnexperte Felix Thoma. Und fordert ein Umsteuern in der deutschen Bahnpolitik.