Land unter bei der Jugendbildung

In ihrer Existenz bedrohte Bildungsträger wollen am Samstag auf der Spree demonstrieren

  • Rainer Rutz
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit fast einer Woche campieren drei Erlebnispädagogen aus Norddeutschland auf einem 18 Quadratmeter kleinen Floß auf der Spree, in Sichtweite zum Berliner Regierungsviertel. Über einen Monat waren Sönke Petersson, Baptiste Bockelmann und Fred Wilkening vom Lübecker Verein Exeo davor auf dem Wasser unterwegs, um mit ihrem schwimmenden Holzvehikel von ihrer Heimatstadt in die Hauptstadt zu tuckeln. »Das war zum Teil ungemütlich, hat aber auch Spaß gemacht«, berichtet Petersson.

Gleichwohl ist die Reise für die drei alles andere als ein in die Länge gezogener Herrentagsspaß. Vielmehr wollen sie mit ihrer Aktion auf die existenziellen Nöte der außerschulischen Bildungsträger aufmerksam machen - in ihrem Fall: den befürchteten »Untergang der Erlebnispädagogik«, so ein am Floß angebrachtes Transparent. Peterssons Verein Exeo bietet seit gut 20 Jahren Wandertage, Klassenfahrten und Ferienprogramme für Kinder und Jugendliche im norddeutschen Raum an.

»Eigentlich waren wir fast ausgebucht. Dann kam Corona«, so der Vereinsvorstand. Es hagelte Stornierungen. Für die zwölf festen Mitarbeiter musste Exeo Kurzarbeit anmelden, den über 60 bereits gebuchten freiberuflichen Trainern wurde abgesagt. Die Ausfälle sind enorm. »Um dieses Jahr zu überleben, bräuchten wir 200 000 Euro«, sagt Petersson.

Um sich mit ihren Sorgen bei der Bundespolitik Gehör zu verschaffen, hat Exeo nun für Samstag eine Demonstration auf der Spree mit bis zu 200 Teilnehmern aus dem ganzen Bundesgebiet angemeldet. Denn das Problem betrifft viele frei Bildungsträger, auch in Berlin und Brandenburg.

»Uns geht es ähnlich wie den Lübeckern«, sagt etwa Dirk Reinink, Betriebsrat der DGB-Jugendbildungsstätte Flecken Zechlin (Ostprignitz-Ruppin). Sein Haus, gut 100 Kilometer nördlich von Berlin, ist auf politische Bildung für Kinder und Jugendliche aus der Hauptstadt spezialisiert. Jährlich 12 500 Übernachtungen zählt die Jugendbildungsstätte. Doch auch in Flecken Zechlin läuft aktuell so gut wie nichts, obwohl die Senatsbildungsverwaltung das coronabedingte Verbot von Kinder- und Jugendreisen in der vergangenen Woche aufgehoben hat. Die Entscheidung kam für die laufende Saison zu spät. »Das hatte sich ja verselbstständigt«, sagt Reinink. »Der Senat hat lange gesagt, er könne keine Aussage dazu treffen, wann die Fahrten wieder erlaubt werden. Also wurde alles storniert.«

Reinink spricht aufs Jahr gerechnet von 80-prozentigen Einnahmeverlusten. »Zwei Drittel der regulären Belegung dürften 2020 verloren gehen. Dazu kommen 90 Prozent Ausfälle bei den Gastbelegern, die uns als Tagungsort buchen.« Im Grunde, sagt Reinink, »kippt damit die Finanzierung des gesamten Hauses«. Anders als der Name vermuten lässt, wird die Jugendbildungsstätte nämlich nur in einem »minimalen« Umfang vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) bezuschusst.

Wie bei den Erlebnispädagogen aus Lübeck hat sich auch an der trostlosen Situation der insgesamt 34 Beschäftigten in Flecken Zechlin bisher nur wenig geändert - und die Zeichen stehen wegen nach wie vor ausbleibender Buchungen erst einmal weiter auf Kurzarbeit. Einzig die Verwaltung ist komplett im Einsatz, »auch um die ganzen Stornierungen zu bearbeiten«, wie Reinink erklärt.

Tatsächlich sei die aktuelle wirtschaftliche Lage der einzelnen außerschulischen Bildungsträger der Hauptstadt sehr unterschiedlich, sagt Tilmann Weickmann, Geschäftsführer des Landesjugendrings Berlin. In gewisser Weise auf der Sonnenseite stünden Träger, die sich hauptsächlich aus Zuwendungen des Landes Berlin oder der Bezirke finanzieren. Diese Zuwendungen standen auch während der Coronazeit »uneingeschränkt zur Verfügung«, so Weickmann. In eine absolute Schieflage seien dagegen jene Anbieter geraten, die vor allem von anderen Einnahmen leben, etwa Veranstaltungsgebühren. »Diese Einrichtungen und Träger haben dramatische Einnahmeausfälle zu verzeichnen.«

Der heruntergefahrene Betrieb in Flecken Zechlin ist aus Sicht von Betriebsrat Reinink aber nicht nur eine finanzielle Belastung für das Haus und seine Beschäftigten. Der fortgesetzte Lockdown sei auch eine Katastrophe für viele seiner Gäste, so Reinink. Man müsse sich nur anschauen, welche wirren Verschwörungsideologien zum Coronavirus auch Jugendliche in Chatgruppen teilen. »Gerade bei Jugendlichen gibt es unverändert einen großen Bedarf an politischer Bildung. Unser Pfund ist, dass wir auch Kids erreichen, die sonst ausgeschlossen sind, die sich eben keine Klassenfahrt nach Barcelona leisten können.«

Was die finanzielle Seite betrifft, ruhen Reininks Hoffnungen auch auf Hilfen des Berliner Senats aus dem vor Kurzem verabschiedeten Nachtragshaushalt und dem darin enthaltenen Rettungsschirm für die Jugendbildung. »Da sind immerhin 1,4 Millionen Euro für Jugendbildungsstätten und andere Kinder- und Jugendeinrichtungen eingeplant. Leider konnte uns bislang noch niemand sagen, unter welchen Bedingungen die Gelder ausgezahlt werden.«

Dessen ungeachtet: Solche Hilfen sind für den Lübecker Sönke Petersson in weiter Ferne. Auch deshalb wollen er und seine beiden Mitstreiter am Samstag auf der Spree mit vielen anderen Bildungsträgern Druck machen. Wobei die drei Pädagogen auch ein wenig Respekt vor der von ihnen angemeldeten Demonstration haben, wie Petersson sagt. »Berlin tickt anders«, habe ihnen die Wasserpolizei mit Hinweis auf den Ende Mai aus dem Ruder gelaufenen Schlauchboot-Rave auf dem Landwehrkanal mitgeteilt. Deshalb sollen Startzeit und Ort der Spree-Demo sicherheitshalber unter Verschluss gehalten werden - vorerst zumindest.

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