»Der Staat macht es sich sehr einfach«

Christine Krößmann leitet als Ehrenamtlerin die Tafel im sachsen-anhaltischen Lützen – auch wenn es sie wurmt, dass die Gesellschaft auf Einrichtungen wie ihre baut

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 7 Min.

Christine Krößmann ist Diplompädagogin und unterrichtete einst am Institut für Lehrerbildung in Weißenfels. Später war sie in der Kommunalpolitik aktiv: 17 Jahre als ehrenamtliche Bürgermeisterin ihrer Heimatgemeinde Dehlitz, seit 2007 als Mitglied im Kreistag des Burgenlandkreises in Sachsen-Anhalt, wo sie ab 2014 die Linksfraktion führte. Aktuell ist die 70-Jährige noch Stadträtin in Lützen, dessen Ortsteil Dehlitz mittlerweile ist. Im Jahr 2017 wurde sie für ihr ehrenamtliches und kommunalpolitisches Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.

Sie leiten die Tafel in Lützen, einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt südlich von Halle. Wie ist diese entstanden?

Wir bestehen jetzt seit fünf Jahren. 2014 wurde ich in den Stadtrat von Lützen gewählt und wollte mich hier noch stärker sozial engagieren. Ich kenne in dem Ort viele Menschen, denen es nicht gut geht. Und da ich seit vielen Jahren Mitglied der Tafel in Naumburg und Weißenfels bin, habe ich beim dortigen Trägerverein angeregt, dass wir auch in Lützen aktiv werden.

Wenn über Tafeln berichtet wird, dann oft aus Großstädten. Warum braucht es eine Tafel in Lützen?

In Lützen und den zugehörigen Dörfern leben rund 8000 Menschen. Unter denen, die zu uns kommen, sind viele Ältere, die früher zum Beispiel in der Landwirtschaft oder der Zuckerfabrik gearbeitet haben, aber in den 90ern keine Arbeit mehr hatten oder von Maßnahme zu Maßnahme wechselten, und deren Renten heute sehr schmal sind. Die brauchen uns. Es kommen auch jüngere Menschen: alleinerziehende Mütter etwa. Und manche, bei denen ich den Eindruck habe, es fehlt eher an Energie und Motivation. Denen helfe ich gemeinsam mit Arbeitsamt und Jobcenter, wieder eine Arbeit zu finden. Manchmal gelingt es auch bei Älteren, ihnen zu einem Einkommen zu verhelfen, mit dem sie auf unsere Unterstützung nicht mehr angewiesen sind.

Wie viele Menschen kommen zu Ihnen?

Zu Spitzenzeiten bis zu 150. Wir haben einen Raum in der »Blauen Maus«, einem Jugendzentrum im Ort, den uns die Kommune zur Verfügung stellt. Die Ausgabe übernehme ich, zusammen mit einem kräftigen Mann, der erst Kunde bei der Tafel war, sich jetzt mit engagiert und die schweren Kisten besser bewegen kann als ich mit meinen 70 Jahren. Unser Trägerverein hat drei Festangestellte und 40 ehrenamtliche Mitarbeiter. Das klingt viel, reicht aber immer noch nicht. In Weißenfels zum Beispiel gab es zeitweise auch Nachhilfeunterricht und ein Kindercafé, aber das mussten wir einstellen. Nicht weil es an Geld gefehlt hätte, sondern weil es nicht mehr genügend Menschen gab, die sich ehrenamtlich engagiert hätten. Das hat uns sehr wehgetan.

Wie häufig ist die Tafel geöffnet?

Derzeit einmal pro Woche, künftig aber vielleicht öfter. Ich möchte mit den Besuchern in Zukunft auch kochen. Wir erhalten manchmal Ware, die besser schnell verarbeitet wird. Uns steht eine schöne, große Küche zur Verfügung, da wäre das gut möglich. Die Leute hätten auf diese Weise ein warmes Mittagessen. Außerdem bieten wir Sozialberatung an und Hilfe bei bürokratischen Angelegenheiten; und ich wünsche mir für die Zukunft auch eine Betreuung für Schüler. Das ist ja mein eigentliches Metier. Da würden wir dann häufiger öffnen.

Woher bekommen Sie die Lebensmittel?

Wir haben Verträge mit Supermärkten in der Region. Manche Ketten werfen die Lebensmittel zwar lieber in die Tonne, als sie an Tafeln zu geben, aber die Mehrzahl ist sehr zugänglich. Zudem haben wir gute Kontakte zu unserer Partner-Tafel in Essen, von wo wir gelegentlich Ware holen. Daneben erhalten wir auch Sachspenden von Bürgern: Eingewecktes, Geschirr, Möbel. Und wir bekommen Geld gespendet. Zu Weihnachten gab eine örtliche Firma 2222 Euro; Stadträte von CDU, Linke und Grünen haben Sitzungsgelder gespendet. Die Räte von SPD und Bürgerliste, einer Wählervereinigung, hielten sich raus. Das sagt ja auch einiges.

Wie verkraften Sie es, mit Menschen zu tun zu haben, die ihr Leben lang gearbeitet haben und dann doch nicht genug Geld haben, um über die Runden zu kommen?

Das Schlimme ist: Viele von ihnen sind um die 70, also in meinem Alter; manche kenne ich aus der Schule. Sie hatten gute Berufe, etwa in der Zuckerfabrik oder in der LPG. Sie haben ihren Mann oder ihre Frau gestanden, in Schichten gearbeitet, sich nicht geschont und waren trotzdem glücklich. Dann wurden ihre Betriebe dichtgemacht, und viele kamen unter die Räder: Ein-Euro-Jobs, die oft die reine Ausbeutung waren, unsinnige Umschulungen, lange Arbeitslosigkeit. Manche haben 20 oder 30 Jahre kein ordentliches Geld mehr verdient. Jetzt zu sehen, wie es ihnen ergangen ist - das schmerzt sehr.

Wie niedrig sind die Renten?

Manchmal weniger als 400 Euro. Wer zu uns kommt, muss ja seine Bedürftigkeit nachweisen; ich kenne also die Zahlen. Davon kann man auch auf dem Land nicht leben, geschweige denn, den Enkeln mal eine Tafel Schokolade mitbringen.

Auch wenn das Geld noch so knapp ist: Der Gang zur Tafel fällt vielen Menschen nicht leicht. Ist das in der Kleinstadt noch schwieriger?

Das ist ein ganz großes Problem. Ich kenne hier viele Leute, die uns bräuchten, aber mir sagen: Ich will nicht, dass ganz Lützen das erfährt. Manche waren in Bereichen tätig, in denen sie Kontakt mit vielen Leuten hatten. Die sagen mir: Es ist toll, dass es euch gibt; ihr seid mir eine große Hilfe. Aber sagt bloß niemandem, dass ich hierherkomme. Das Schamgefühl ist groß. Dabei ist es nicht die Schuld der Leute. Es ist eher eine Schande, dass in einem derart reichen Land wie Deutschland so etwas nötig ist wie die Tafeln.

Manche kritisieren, die Tafeln lieferten dem Staat quasi ein Alibi, um sich aus der Verantwortung zu stehlen.

Das sehe ich genauso. Der Staat macht es sich sehr einfach und wälzt die Verantwortung, sich um Bedürftige, Menschen mit niedrigem Einkommen oder in schwierigen sozialen Lagen zu kümmern, auf Ehrenamtliche ab. Das Problem ist: Diesem System geht es gar nicht darum, dass es allen Menschen gut geht; es basiert auf Egoismus und Ellenbogenmentalität. Zu viele Menschen, die Geld haben und in gesicherten Verhältnissen leben, interessieren sich nicht dafür, wie es ihren Nächsten und ihren Nachbarn geht. Nur ein kleines Indiz: Unsere Kunden berichten, dass in den Läden gerade in der Coronazeit die preiswerten Waren als Erstes ausverkauft waren - gekauft von Leuten, die sich auch Artikel zu einem höheren Preis hätten leisten können. Es regiert Rücksichtslosigkeit und nicht Solidarität. Die sozialen Probleme, die so entstehen und Tafeln nötig machen, lassen sich in diesem Gesellschaftssystem nicht lösen. Davon bin ich fest überzeugt.

Wird Corona dafür sorgen, dass noch mehr Menschen auf die Tafeln angewiesen sind?

Da bin ich unsicher. Einerseits gibt es gerade in der Gastronomie oder bei Kleinstunternehmen sehr große Probleme. Ich kenne hier Selbstständige, die seit Monaten keinerlei Einnahmen haben, aber laufende Kosten decken müssen. Denen verweigert das zuständige Amt wie zum Hohn noch die Unterstützung, weil irgendein Paragraf dagegenspricht. Gleichzeitig sind das oft aber Menschen, die auch in einer noch so schlimmen Lage nicht zur Tafel kämen, weil sie sich immer durchgeboxt haben und das jetzt als Eingeständnis einer Niederlage ansehen würden - auch wenn es ja keine individuelle Schuld ist.

Wie lange hatten Sie während des Corona-Lockdowns geschlossen?

Überhaupt nicht. (lächelt stolz) Wir hatten durchgängig geöffnet; wir hatten auch immer Ware, dank guter Partner. Es gab stets Wurst, es gab Brot und Brötchen, Butter, auch Milch und Gemüse. Ich habe den Leuten gesagt: Heute ist es mal etwas weniger, aber dafür gab es Verständnis.

Was kommt bei Ihnen in die Tüte?

Wie gesagt: Brot, Butter, Wurst. Nudeln, Reis, Zucker. Porree, Kohlrabi, Möhren. Kuchen, Süßigkeiten. Es reicht immer für die Woche. Zu manchen Jahreszeiten ist es etwas magerer; da freue ich mich, wenn Bürger Konserven spenden. Mein Traum wäre ein Tafelgarten, in dem unsere Leute ihr Gemüse selbst anbauen können. Dazu braucht es aber jemanden, der das Projekt betreut. Dafür gibt es leider kein Geld.

Gibt es auch Dinge, die nicht gehen?

Pastinaken oder Auberginen kennen viele nicht, weil sie das nie kaufen würden. Da sage ich: »Hier habt ihr ein Rezept, und nächste Woche will ich wissen, wie es geschmeckt hat.« Weggeworfen wird nichts.

Denken Sie manchmal an Ruhestand?

Mein Motto lautet: »Einem anderen geben, was er braucht, ein Stück Brot, ein Lächeln und ein offenes Ohr - und das jetzt und nicht irgendwann.« Solange ich kann, lebe ich danach.
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