nd-aktuell.de / 27.06.2020 / Reise / Seite 30

Der Wegbereiter

Peter Mildner ist Wegewart: Ehrenamtlich verhilft er Wanderern zu Orientierung.

Hendrik Lasch

Der rote Punkt hat sich verirrt. Peter Mildner will einer Frau mit Kind an einer Orientierungstafel erklären, auf welchem Steig sie vom Papststein, einem Sandsteinfelsen in der Sächsischen Schweiz, zum Ausgangspunkt ihrer Wanderung zurück findet. Der Weg ist auf der Tafel mit dem roten Punkt markiert. »Aber das stimmt nicht«, erklärt Mildner der Wanderin: »Da hat die Karte einen Fehler.« Die Frau hat einen gut gemeinten Rat: »Nehmen Sie halt einen Edding und ändern Sie es!«

So weit kommt es noch. Mildner hat bei den Touren in seinem Revier zwischen Pirna und der Grenze zu Tschechien stets ein kleines Arsenal an Material und Werkzeugen dabei: aufklebbare Wegzeichen mit Balken oder Punkten in rot, gelb, blau und grün. Eine Astschere; eine Baumsäge. Einen Wischmopp am Teleskopstab, der für Autoscheiben gedacht ist, mit dem man aber auch Moos von Wegweisern entfernen kann. Sein Handy, mit dem er beschädigte Wanderzeichen fotografieren kann. Einen wasserfesten Stift aber, um auf Orientierungstafeln herumzukritzeln, hat er ganz gewiss nicht in der Tasche. Und sollte er solch eigenmächtige Korrekturen entdecken, würde er sich flugs darum kümmern, dass sie verschwinden.

Mildner ist Wegewart - und damit einer jener Ehrenamtlichen, die in Zeiten von »Urlaub dahoam« noch wichtiger sind als sonst. Die Deutschen werden wohl in diesem Sommer angesichts anhaltender Ungewissheit rund um Corona in geringerer Zahl als sonst in entfernte Weltgegenden fliegen und statt dessen auf Campingplätze und Radwege im eigenen Land ausschwärmen - und in Wanderreviere wie die Sächsische Schweiz. Erquicklich sind Touren dort freilich nur, wenn Aussichtsgipfel, Ausflugslokale und das Auto am Ende der Wanderung zuverlässig aufgespürt werden. Dabei helfen die farbigen Balken und Punkte an Wegweisern, Bäumen und Zaunpfosten, die Wanderern die Gewissheit geben, auf dem rechten Weg zu sein. Dass die Markierungen intakt, lücken- und fehlerlos sind - dafür sorgen Wegewarte wie Mildner. Ohne sie würde so mancher Wanderer bald Orientierung und Lust verlieren.

Peter Mildner übt das Amt seit 2004 aus. Sein Berufsleben im Rat des Kreises und später der Landkreisverwaltung Pirna, in der er für Gewässer zuständig war, endete; eine Kollegin fragte, wie er sein Rentnerdasein zu verbringen gedenke. Mildner sagte, er hoffe auf mehr Zeit zum Wandern. »Du bist mein Mann!«, erwiderte diese. Der Landkreis hatte die Position eines Kreiswegewarts zu besetzen. Das ist eine Art übergeordnete Instanz über den Ortswegewarten, die in Sachsen von den Kommunen eingesetzt werden; in anderen Regionen sind Wandererorganisationen wie Alpenverein, Harz- oder Rhönclub für die Besetzung zuständig. Mildner wurde vom Kreistag berufen, gemeinsam mit einem Kollegen. In ihrer von einem dichten Netz an Wanderwegen durchzogenen sächsischen Region kümmert sich sein Mitstreiter um das Gebiet links der Elbe, mit Bastei und Lilienstein; Mildner ist zuständig für die rechtselbische Seite, zu deren Attraktionen die Festung Königstein oder der Pfaffenstein mit der Felsnadel Barbarine gehören.

An diesem Tag ist Mildner rund um den Gohrisch unterwegs, von dessen 440 Meter hohem Plateau man weit über das Elbtal schauen kann. Vom Wanderparkplatz »Galgenschänke« folgt er zunächst dem roten Punkt, später dem gelben und dem grünen Strich. Das übersichtliche System der Wegmarkierungen sei vom Kulturbund der DDR entwickelt worden, erzählt er; nach 1990 wurde es in Sachsen beibehalten. Andere Regionen setzen teils auf vielfältigere Formen und Zeichen, die aber in verkleinerter Form in Wanderkarten teils nur schwer zu erkennen sind oder im Wald verwirren können.

Die eigentlichen Wege, die mit den Zeichen markiert werden, sind weit älteren Ursprungs. Viele waren zunächst Wirtschaftswege für Holzfäller und Bauern. Die touristische Erschließung der heutigen Sächsischen Schweiz, die mit ihren Felsformationen und engen Schluchten zuvor als unnahbar und gefährlich gegolten hatte, begann am Ende des 19. Jahrhunderts. Frühe Wanderer waren auf die Hilfe Ortskundiger angewiesen. Später wurden steinerne Wegsäulen errichtet, von denen etliche bis heute erhalten sind. Ab 1879 begann der Gebirgsverein für die Sächsisch-Böhmische Schweiz nach österreichischem Vorbild mit der Markierung und Beschilderung von Wanderwegen; »eine große Erleichterung für die Wanderer«, wie im kenntnis- und materialreichen »Malerweg-Wanderführer« von Peter Röhlke steht.

Wegewarte wie Peter Mildner müssen zum einen das Erbe erhalten. Das heißt zum Beispiel: Wegzeichen erneuern, die von der Zeit in Mitleidenschaft gezogen wurden, bei der Fällung von Bäumen verschwanden, mutwillig zerstört oder sogar als Reiseandenken zweckentfremdet werden. Die Gefahr ist in Sachsen zwar nicht so groß wie anderswo: Markierungszeichen werden im Freistaat in der Regel mit Farbe an Bäumen angebracht, »gern an Buchen«, sagt Mildner, »weil deren Rinde schön glatt ist und der Baum langsam wächst.« An Kiefern dagegen sehen sie bald verzerrt und zerklüftet aus. Wegzeichen in anderen Regionen, die aus Blech oder Kunststoff bestehen, seien nicht nur teurer, sondern auch »attraktiv als Souvenir«, heißt es in einer Broschüre für Wegewarte aus Sachsens Umweltministerium. In Mildners Revier verschwinden freilich auch Wegweiser. Dabei, sagt er, könne man Nachbildungen erwerben, um sich an eine schöne Wanderung zu erinnern: »Das sollte es einem wert sein.«

Daneben werden Wegewarte konsultiert, wenn eine Kommune einen Wanderweg verlegt oder neu ausweist und dieser markiert werden soll. Es gilt, mit den Augen der Wanderer die »Entscheidungspunkte« zu erkennen, die markiert werden müssen: Abzweige oder Kreuzungen, an denen sich diese ohne Hilfe zu verlaufen drohen. Sie müssen »aus allen und in alle Anschlussrichtungen erkennbar sein«, sagt die Broschüre. 25 bis 50 Meter danach soll eine Markierung zur Bestätigung angebracht sein; dann alle 250 Meter eine weitere.

Viel Arbeit also für die Wegewarte, die gehalten sind, jeden Weg in ihrem Revier einmal im Jahr zu kontrollieren - und dabei auch im Auge zu behalten, ob Geländer stabil, Stufen sicher, Wanderhütten intakt sind. Wie viele Kilometer er dabei pro Saison zurücklegt, kann Mildner nicht sagen; wie viel Zeit die Tätigkeit kostet, auch nicht. Er sei doch vermutlich »von morgens bis abends nur unterwegs«, sagt ein Wanderer aus dem Emsland, den Mildner auf dem Gohrisch-Gipfel anspricht und nach seiner Zufriedenheit mit den Wanderwegen fragt. Er sei »vom 1. Januar bis 31. Dezember im Dienst«, erwidert der Wegewart. Dafür erhält er wie seine Kollegen eine Ehrenamtsentschädigung, die ein eher symbolischer Obolus ist; manchmal einen Kaffee von einem der Bürgermeister, die man regelmäßig besucht, seltener auch einen Ehrenamtspreis. Gratis gibt es viel Bewegung an der frischen Luft. »Ich fühle mich verpflichtet rauszugehen«, sagt der Endsiebziger: »Sonst wäre ich vielleicht fauler.«

Ähnlich denken offenbar viele Menschen. Probleme, frei gewordene Ämter neu zu besetzen, gebe es in seiner Region jedenfalls nicht, erzählt Mildner. Viele Wegewarte sind wie er Senioren; daneben betreut er Ortswegewarte, die als Jäger arbeiten, als IT-Spezialist, Tischler oder als Historikerin. Sie alle bemühen sich, den Wanderern zu bestmöglicher Orientierung zu verhelfen. Eine gewisse Aufmerksamkeit wird von diesen freilich dennoch verlangt; wer im Wald träumt, geht in die Irre. Wovor im Übrigen auch ein Wegewart wie Mildner nicht gefeit ist. Er habe einmal im Winter in der Dämmerung eine Markierung übersehen, gesteht er - und kam prompt zu spät nach Hause. An Mängeln in der Beschilderung lag das nicht.