Mit Antatschdrang

Velten Schäfer an der kleinen Querfront um die »Großfamilie«

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 3 Min.

Erst drei Generationen ist es her, dass große Familien hierzulande das Ideal waren. Um den ursprünglich-germanischen Charakter des Kinderreichtums und die Bande der Blutsverwandtschaft zu unterstreichen, feierten die Nazis die »Sippe« als kleinste Einheit ihrer »Volksgemeinschaft«. Doch inzwischen hat die »Großfamilie« einen ganz anderen Geschmack. Schon länger ist das Wort eine Chiffre für vermeintlich organisierte Klein- oder Großkriminalität in Einwanderungsvierteln, wo nicht gar für »Umvolkung«. Und in Zeiten von »Corona-Ausbrüchen« stehen »Großfamilien« überdies für eine Art Parallelgesellschaft mit irrationalem Antatschdrang - mithin für eine allgemeine hygienische Bedrohung.

Der Topos verdeutlicht, wie eng Rassismus und Klassendünkel kooperieren: Nicht nur der klassisch bürgerliche Ethos der Distanz - zum eigenen Körper, zum Körper anderer, zum Körper überhaupt, zur lebenden Umwelt - ist darauf gebaut. Sondern auch die klassistische Beschämung von Menschen, die außer Körpern und Nachkommen - lateinisch: proles - nicht viel haben. Die beides deshalb ständig angrabbeln müssten. Die nicht fähig seien zur vernünftigen Selbststeuerung mit stetem Kontrollblick auf Wissenschaft und Gemeinwohl. Die also im Gemüt so fröhlich-schlicht und erziehungsbedürftig seien wie jene Kinder, deren sofortige Wegsperrung auch bei Infektionslagen in der regionalen Fleischindustrie offenbar als unvermeidlich gilt. In dieser Versippung en masse ist jedenfalls, das meint der Ausdruck am Ende, »Blut dicker als Wasser«, geht Leib über Hirn und reicht das Leben nur »von der Hand in den Mund«. Dabei sind Berührungen schon des eigenen Gesichts derzeit zu minimieren!

Sechs Kinder? Sieben? Gute Güte. Der subtile Ekel vor der »Großfamilie« ist eine kleine deutsche Querfront. Nicht nur Max Mustermann findet anrüchig, was ihm das Privatfernsehen als Sozialkuriosum zeigt. Auch das aufgeklärteste Kleinbürgertum ist reserviert: Weil offenbar »früh angefangen« wurde, wo auch nur fünf Kleine sind oder Urgroßeltern zu erleben. Riecht das nicht eher nach überholten Geschlechterrollen als nach freier Selbsterfindung? So tritt neben die rechten Motive der Verachtung ein spezifisch linksliberales: Die »Großfamilie« ist selbst dann verdächtig, wenn sie denkbar mittelklassig und biodeutsch ist: der Frömmelei oder völkischen Sippenwahns.

Womit man wieder am Anfang wäre: Jener braune Kult der großen Familie war tatsächlich so irreal wie die spätere Kritik, die Nazis hätten die Frauen zu »Gebärmaschinen« gemacht. Die Familiengröße sank nach 1933 unbeeindruckt weiter. Nur schmähte man damals in reaktionärer Romantik, was heute als posttraditionale Entfesselung gilt: den schwindenden Geburtenbedarf entwickelter kapitalistischer Produktivkräfte, die soziale Funktionen durch Bürokratie - oder »Märkte« - ersetzen. So ließe sich ihr Ruf nur retten, wenn man mit der »Großfamilie« wie mit dem Schreberwesen verführe: Wo das einstige Schreckensreich des Gartenzwergs als »Urban Gardening« durchgeht, wäre sie immerhin für Linksliberale als »polygenerationelles Solidaritäts- und Empathiecluster« wohl wieder akzeptabel: am besten anglofon abgekürzt.

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