Als Unseld Unheil witterte

Der Suhrkamp-Verlag wird 70: Was dachten seine Verleger?

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.

Er las früh, und er liebte Bücher. Seit er eine Weile in einem Schulinternat lebte, hat er jeden Tag »mit einer anspruchsvollen Gewohnheit« begonnen, der Lektüre. Aber dass er mal Verleger werden würde, hat Peter Suhrkamp nicht ahnen können.

Er war Volksschullehrer, Dramaturg, Redakteur und seit dem 1. Januar 1933 Herausgeber der »Neuen Rundschau« im S.-Fischer-Verlag. Vier Wochen später kam Hitler, und es begannen die Prüfungen seines Lebens. Die Erben Samuel Fischers verließen 1936 Deutschland und edierten die unerwünschten Autoren von Thomas Mann bis Jakob Wassermann erst im Wiener und danach im Stockholmer Exil. Suhrkamp blieb und dirigierte den in Berlin verbliebenen Teil des Verlages allein durch die schwierigen Zeiten, bis ihn die Nazis wegen Landesverrats 1944 ins KZ warfen.

Er war todkrank, als er im Februar 1945 überraschend entlassen wurde, erhielt als erster deutscher Verleger nach Kriegsende eine Verlagslizenz, sollte dann aber nach dem Willen des zurückgekehrten Gottfried Bermann Fischer nur noch als Berater fungieren. Hermann Hesse riet, einen eigenen Verlag zu gründen, und Peter Suhrkamp zögerte nicht. Die Fischer-Autoren ließ er wählen, wo sie künftig publizieren wollten. Von 48 entschieden sich 33 für ihn. Brecht brauchte für sein Votum nur einen Satz: »Lieber Suhrkamp, natürlich möchte ich unter allen Umständen in dem Verlag sein, den Sie leiten.« Am 1. Juli 1950 wurde das neue Unternehmen ins Handelsregister eingetragen.

Das Ziel war von Anfang an umrissen: Suhrkamp sollte ein »gegenwärtiges Gesicht« erhalten und kein x-beliebiges Unternehmen sein, keine profillose Gemischtwarenhandlung, die auf den Geschmack eines möglichst breiten Publikums schielt. Man begann mit T. S. Eliot und Max Frisch. Es folgten Theodor W. Adorno und Walter Benjamin, Brecht und Hesse, Laxness und Shaw. Suhrkamp wollte sammeln und bilden. Er gründete die Bibliothek Suhrkamp, beauftragte Eva Rechel-Mertens, Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« ins Deutsche zu übertragen und setzte den französischen Erzähler gegen alle Widerstände durch. Er brachte Beckett, Günter Eich, Wolfdietrich Schnurre, den jungen Martin Walser, und er plante, stets »unbekümmert um die Tagesbörse der Meinungen«, wie Max Frisch rühmte, unbeeindruckt auch von politischem Druck, eine Werkausgabe des im Westen verketzerten und boykottierten Bertolt Brecht. Im Lauf weniger Jahre wurde der Verlag eine Institution, die wichtigste literarische Stimme in der Bundesrepublik.

Dass Peter Suhrkamp selber schrieb, in der Hauptsache Essays und Kritiken, wissen heute nur noch wenige. Seine publizistische Arbeit dokumentiert der Verlag jetzt, 70 Jahre nach seiner Gründung, mit dem Band »Über das Verhalten in der Gefahr«, der bislang gründlichsten und umfangreichsten Textsammlung seines Gründers, der sich unablässig mit der Welt des Buchs und Problemen seiner Zeit beschäftigt hat.

Vorn eine Theaterkritik aus dem Jahr 1919, am Ende ein im Mai 1957 verfasster Brief an Heinrich von Brentano, den damaligen Außenminister der Bundesrepublik, der Brechts späte Gedichte mit der Lyrik des NS-Heiligen Horst Wessel verglichen hatte. Dazwischen Buchempfehlungen, Betrachtungen, ein Rückblick auf die Bücherverbrennung von 1933, ein leidenschaftliches Plädoyer für Proust, Aufsätze über das Lesen und den Nutzen einer Bibliothek, ein Gruß zum 70. Geburtstag Hermann Hesses, der fünf Jahre später, 1952, seinem Freund Suhrkamp einen jungen Mann empfahl, der dann die rechte Hand des Chefs wurde und nach dessen Tod 1959 auch seinen Platz einnahm: Siegfried Unseld.

Der, wie geboren für seine Aufgabe, ist rasch die prägende Verlegerpersönlichkeit geworden. Er brachte alles mit, was einer braucht, um mit hochempfindlichen, manchmal größenwahnsinnigen Autoren, die meist nur das Eigene im Blick haben, umgehen zu können, sie auszuhalten, zu besänftigen, zu ermuntern, anzuspornen.

Wieviel Einfühlungsvermögen, Fingerspitzengefühl, Geduld, Geschick, Entschiedenheit da im Spiel war, illustriert jetzt die Bibliothek Suhrkamp mit einem Band, der Unselds Erfahrungen aus sechzig Jahren Verlegerdasein bündelt. Er war erst zehn Tage im Amt, als er nach Berlin fuhr, um mit Brechts Witwe Helene Weigel zu verhandeln. Das Ergebnis des Gesprächs hielt er im ausführlichen Bericht fest und machte dann diese Praxis zur Gewohnheit.

Als er 2002 starb, hatte er etwa 1500 solcher Ausflüge unternommen, mal rasche Stippvisiten, mal längere Unternehmungen, die alle sorgfältig beschrieben wurden und nur Mitarbeitern des Hauses zugänglich waren. Eine Auswahl der Protokolle hat Raimund Fellinger, der im April verstorbene Cheflektor, nun zu einer bestechenden Innenansicht der Verlagsarbeit gefügt.

Der Titel nüchtern: »Reiseberichte«. Auch die Texte, die Gespräche, Absprachen und Eindrücke festhalten, sind mitunter so schmucklos wie der Begriff, unter dem sie gesammelt wurden. Manchmal geht es lediglich um die profanen Dinge des Metiers, um Vorschusszahlungen, Honorare, Termine, Papierformate oder Auflagenhöhen. Aber selbst da ist die Handschrift eines Mannes zu erkennen, der als Chef Freund, Anreger, Planer, Finanzminister, Partner, Ermunterer und auch Seelsorger war.

In einem Brief an den Soziologen und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann hat Unseld erklärt: »Ich bin vielleicht - und hoffentlich - gegen die Erwartungen insofern ein altmodischer Mensch, als mir sehr viel an der persönlichen Begegnung liegt.« Und so zog er immer wieder los, nach Leipzig, New York, Warschau, Rom, nach Japan oder an den Bodensee, sprach mit Buchhändlern und traf seine Autoren. Meist wurden es angenehme, produktive Missionen, zuweilen aber auch Treffen, die eher schockierten. Thomas Bernhard reservierte ihm im Sommer 1980 »das schönste Zimmer im Hotel«. Unseld: »Ich witterte irgendein Unheil. Und es kam dann auch.« Bernhard erklärte ihm unumwunden, man habe es nun lange genug miteinander ausgehalten, jetzt sei es besser, sich zu trennen, er müsse ja nicht schreiben, und seine 2000 Mark könne er im Monat auch anders verdienen. Max Frisch, der sich nicht genügend geehrt fühlte, sorgte mit kleinlichen und haltlosen Vorwürfen sogar für die schlimmste Irritation, als er dem Verleger im Mai 1971 schäbiges und ignorantes Verhalten unterstellte.

Was diesen Berichten ein allgemeines Interesse sichert, ist Unselds Geschick, nicht bloß magere Wiedergaben seiner Gespräche zu liefern. Er zeigt auch, und sei’s nur skizzenhaft, den Schriftsteller, mit dem er es zu tun hatte. Als er im Juli 1969 mit Wolfgang Köppen zusammentraf, konnte er auf Einzelheiten der Begegnung sogar verzichten. Eine Unterhaltung hat es nicht gegeben, nur einen zweistündigen Koeppen-Monolog, eine Beichte im Hotelzimmer, die Schilderung der privaten, katastrophalen Nöte und ein weiteres Versprechen (das auch wieder gebrochen wurde), sein neues Manuskript demnächst zu beenden. »Im übrigen war er vollkommen abgebrannt«, schrieb Unseld. »Ich übergab ihm DM 500,-. Wie es weitergehen wird, weiß niemand.«

Immer wieder erlaubt das Buch Blicke hinter die Kulissen des täglichen Geschäfts. Man sieht Samuel Beckett, der Literatur als »Strafarbeit« empfand, in seinem dunklen, ärmlichen Pariser Quartier, einen spindeldürren Mann mit leuchtendem Gesicht, der sich noch immer tapfer an den Schreibtisch setzte, auch wenn ihm nur wenig gelang. Da ist die Österreicherin Friederike Mayröcker, die ihren Verleger nicht zu Hause empfangen konnte, weil es in ihrem von Büchern und Papieren chaotisch beherrschten Zimmer keinen Platz gab. Dann wieder ein Gang durch das alte Prag des Bohumil Hrabal, der durch einen Fenstersturz zu Tode kam und nun in einer ergreifenden Trauerfeier gewürdigt wurde. In Warschau traf Unseld in ihrer winzigen Wohnung Maria Szymborska, die scheue, zurückhaltende, gerade mit dem Nobelpreis geehrte Dichterin. Stanislaw Lem offerierte ihm seine Überzeugung vom bevorstehenden Weltuntergang, Unseld reiste zur Beisetzung des liebenswerten Prosaisten Hermann Lenz, sprach mit Enzensberger, Handke, Plenzdorf, Thomas Brasch, Amos Oz und spielte 1995 in einer Simultanveranstaltung mit Anatoli Karpow Schach. Der Weltmeister gewann nach 28 Zügen und animierte seinen Gegner zu einem detaillierten Bericht, der ausnahmsweise nicht um Literarisches kreist.

Peter Suhrkamp: Über das Verhalten in der Gefahr, hg. v. Raimund Fellinger u. Jonathan Landgrebe, Suhrkamp, 420 S., geb., 30 €. Siegfried Unseld: Reiseberichte, hg. v. Raimund Fellinger, 378 S., geb., 26 €.

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