Starke Zunahme schwerer Gewalt

Der Corona-Lockdown hat körperliche Misshandlungen in Familien heftig ansteigen lassen

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 4 Min.

Die vorläufige Bilanz ist erschütternd. »Es muss einen riesigen Eisberg geben, den wir nicht zu Gesicht bekommen«, beschreibt Saskia Etzold, Leiterin der Gewaltschutzambulanz der Charité, am Donnerstag im Roten Rathaus aus ihrer Sicht die Situation. Zusammen mit Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) stellt Etzold die aktuellen Fallzahlen häuslicher Gewaltausübung im Zusammenhang mit dem Corona-Lockdown vor.

Diese spiegelten im Grunde die einzelnen Phasen des Lockdowns wider, erklärt Etzold: »Zu Beginn war es den von Gewalt betroffenen Frauen nicht möglich, das Haus zu verlassen und sich Hilfe zu holen, außer, wenn sie die Polizei gerufen haben.« Während es demnach im März 2020 im Vergleich zum Vorjahresmonat einen Rückgang der Fälle um 24 Prozent gegeben habe, hätte sich das ab Ostern dieses Jahres wieder sehr deutlich geändert. Zum Höhepunkt der Lockerungen im Juni 2020 verzeichnete die Gewaltschutzambulanz einen Anstieg von 30 Prozent im Vergleich zum Juni 2019. In den ersten zwei Juniwochen habe man sogar einen Anstieg um 50 Prozent registriert. In absoluten Zahlen werden für das erste Halbjahr 783 Fälle erfasst, davon allein 152 im Juni (2019: 727, 2018: 703). 80 Prozent der Betroffenen sind Erwachsene, 20 Kinder. Bei den Erwachsenen wiederum handele es sich in einem Fünftel der Fälle um von Gewalt betroffene Männer.

»Wir haben sehr früh gesagt: Da kommt was auf uns zu«, erinnert sich die Leiterin der Einrichtung, die im Jahr 2,1 Millionen Euro vom Land erhält, an den Beginn der Coronakrise. Nun hätten sich alle Befürchtungen bewahrheitet.

Ihre insgesamt zehn Mitarbeiter*innen haben in den vergangenen Wochen aber nicht nur einen erheblichen Anstieg festgestellt, sondern auch eine deutliche Verschiebung beim Schweregrad der Verletzungen der Betroffenen, die sich an die Charité-Stelle gewandt haben. »Wir haben zu 90 Prozent sehr schwere Verletzungen«, erklärt Etzold - vor allem Brüche und Halsverletzungen. Viele Verletzungen seien durch direkte Schläge ins Gesicht hervorgerufen worden, darunter Nasenbein- und Jochbeinbrüche. Dass die meisten Fälle derzeit durch die Polizei vorstellig gemacht würden, ermögliche zumindest, die Lebensbedrohlichkeit der Verletzungen festzustellen, was sonst häufig nicht der Fall sei, erklärt die Medizinerin. Zahlreiche Opfer hätten aus Angst vor Ansteckung mit dem Coronavirus auch die Notaufnahmen der Kliniken gemieden und direkt die Ambulanz aufgesucht.

Rund ein Fünftel der in der Ambulanz vorstellig gewordenen Betroffenen sind Kinder zwischen 0 und 18 Jahren. Da deren soziale Kontrolle durch Tagesmütter, Kitas oder Schulen weggefallen sei, durch die in der Regel Kindesmisshandlungen bemerkt werden, habe man einen klaren Anstieg der Fallzahlen auch hier erst Ende Mai, Anfang Juni verzeichnen können, erläutert Etzold.

Kinder sähen sich vielfach Schlägen - auch mit Gürteln oder Kabeln - ausgesetzt, beschreibt sie auf Nachfrage. Auffällig viele ältere Kinder hätten versucht, sich selbst aus der Gewaltsituation zu befreien und die Polizei angerufen. Insgesamt sind demnach die Fälle von Kindesmisshandlungen im ersten Halbjahr 2020 um 23 Prozent im Vergleich zu 2019 gestiegen. In vielen Fällen musste eine sichere Unterbringung organisiert werden. Abgesehen von den zur Verfügung stehenden Stadthotels, die die Gesundheitsverwaltung angemietet hatte, habe dies angesichts des angespannten Wohnungsmarkts durchaus zu Schwierigkeiten geführt.

Gegenüber der häuslichen oder auch interpersonellen Gewalt - bei der Menschen nicht zwangsläufig in einem verwandtschaftlichen Verhältnis stehen oder zusammen in einem Haushalt leben - seien die Sexualdelikte im Vergleich zum Vorjahr um 32 Prozent zurückgegangen, erklärt dazu Justizsenator Behrendt. Dies habe vor allem damit zu tun, dass es im Zuge des Lockdowns an Tatgelegenheiten gemangelt habe. Die Zahl angezeigter Vergewaltigungsfälle sei so außerhalb von häuslicher Gewalt nahezu auf Null gesunken.

Auch bei den Verfahren bei den Strafverfolgungsbehörden mache sich die Pandemie bemerkbar, so der Senator. Während die Verfahrenseingänge im Vergleich zwischen März 2019 und 2020 von 1352 auf 739 sanken, stiegen sie im April-Vergleich von 1089 auf 1565 - eine Zunahme um 50 Prozent, die sich auch aus den Corona-Lockerungen erklären lasse.

Sowohl Saskia Etzold als auch Dirk Behrendt nahmen die Zwischenbilanz zum Anlass, um noch einmal auf Hilfetelefone wie die 030-450570270 der Ambulanz zu verweisen.

»Es wird in allen Schichten, Ethnien und Religionen gequält«, erklärt Etzold abschließend. 80 Prozent der Menschen, die jetzt in die Ambulanz kämen, hätten bereits Gewalterfahrungen. »Viele Menschen haben sich so sehr an Gewalt gewöhnt, dass sie diese nicht mehr wahrnehmen«.

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