Russland spielt auf Zeit

Verfassungsänderung verschiebt drängende Fragen in die Zukunft.

  • Felix Jaitner
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Autonome Kreis der Nenzen liegt im äußersten Nordwesten Russlands jenseits des Polarkreises. Kaum ein Mensch verirrt sich in diese Region, die vor allem von Rentierzucht, Fischerei und großen Ölvorräten im arktischen Meer lebt. Doch im Zuge der geplanten Verfassungsänderungen wandelte sich der kleine Kreis plötzlich zum gallischen Dorf: Als einzige Region im ganzen Land stimmte eine Mehrheit gegen das neue Grundgesetz. »Die Ergebnisse zeugen von der Wahrhaftigkeit des Auszählungsprozesses«, sagte die Leiterin der Wahlkommission Ella Pamfilowa, einzelne Abstimmungsergebnisse wolle sie jedoch nicht kommentieren. Wohl aus gutem Grund: In der tschetschenischen Teilrepublik im Nordkaukasus unterstützten rekordverdächtige 98 Prozent der Wähler die Verfassungsänderungen. Ein Spitzenwert.

Eine Woche konnten die Bürger der Russischen Föderation über die Verfassungsänderungen abstimmen. Dem offiziellen Ergebnis zufolge unterstützen 77,9 Prozent der Wähler den Vorschlag, die Wahlbeteiligung lag landesweit mit 67,97 Prozent. Begleitet wurde die Woche von zahlreichen Berichten in- und ausländischer Medien, wonach staatliche Behörden und Unternehmen ihre Angestellten zur Wahl gedrängt hätten. Die Wahlbeobachtungsorganisation Golos berichtete im Zuge der Abstimmung von über hundert Verstößen. Eine abschließende Analyse steht aber noch aus.

Es sei »eine moralische Abstimmung für Russland« gewesen, schreibt die regierungsnahe Zeitung »Rossijskaja Gaseta«, ein »Referendum über das Vertrauen in Wladimir Putin«. Im Vorfeld hatte die Regierung mit großem Aufwand für Unterstützung geworben. Doch der Hintergrund für den Vertrauensbeweis ist ein anderer: Denn mit der Annahme der Verfassungsänderungen werden die bisherigen Amtszeiten des Präsidenten nicht mehr gezählt. Diese in der russischen Diskussion »Nullierung« getaufte Korrektur eröffnet dem Staatschef theoretisch die Möglichkeit, bis ins Jahr 2036 zu regieren - und das gezeigte Vertrauen mit gesellschaftlicher Stabilität zurückzuzahlen.

Stabilität war das zentrales Versprechen Wladimir Putins in den frühen 2000er Jahren und eine wirksame Antwort auf das politische und ökonomische Chaos der Transformation, die Auflösung der Sowjetunion und den Übergang zum Kapitalismus. Die Regierung garantierte Wirtschaftswachstum und Konsum und erkaufte sich dafür politische Ruhe. Als Garant dieser Ordnung galt Wladimir Putin, der dadurch, so der ehemalige Putin-Berater und Polittechnologe, Gleb Pawlowskij, »alternativlos« wurde.

Der Präsident nimmt auch innerhalb der russischen Elite eine bedeutende Funktion ein. Anders als in westlichen Medien suggeriert, ist Putin weniger der rote Zar im Kreml, sondern ein Vermittler zwischen den konkurrierenden Herrschaftsfraktionen aus Rohstoffunternehmen, Rüstungsindustrie, Agrarkonzernen und Gewaltapparaten (Militär, Polizei, Geheimdienst) und ihren zum Teil divergierenden Interessen.

Die auf regierungskritischen Protesten wiederkehrende Losung: »Russland ohne Putin!« greift daher zu kurz. Denn die Fixierung auf die Person Putin verstellt den Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich unter seiner Amtszeit herausgebildet haben. Die Verfassungsänderungen sind ein Versuch der Herrschenden, den Übergang zu einer Post-Putin-Periode zu gestalten, ohne die etablierte Ordnung umzustürzen.

Im Angesicht der anhaltenden Wirtschaftskrise, der seit 2011 wiederkehrenden Proteste und der wachsenden sozialen Polarisierung erweist sich dieses Vorhaben als schwierig. Mit der Übernahme national-konservativer Positionen in die Verfassung (Stärkung der Kirche, Betonung familiärer Werte, Ehe als Verbindung zwischen Mann und Frau) versucht die Regierung, neue gesellschaftliche Kräfte zu gewinnen und damit ihre Klassenbasis zu verbreitern. Der garantierte Mindestlohn und die Rentenanpassung an die Inflationsrate richten sich an eine andere wichtige Unterstützergruppe: die Pensionäre, deren Vertrauen in die Regierung durch die sogenannte Rentenreform 2018 deutlich gelitten hat.

Die Verfassungsänderungen bestätigen eine Reihe langfristiger Entwicklungen in Russland: Sie festigen die seit 2012 offen vollzogene national-konservative Wende der russischen Führung. Im Hinblick auf die ungelöste personelle Neuausrichtung verschaffen sie den Herrschenden bestenfalls mehr Zeit. Genauso bestätigt sich, dass die russische Elite kein Interesse daran hat, die politische, ökonomische und soziale Krise im Land effektiv zu bearbeiten. Denn Maßnahmen zur sozialen Umverteilung und eine Abkehr vom ökologisch schädlichen Rohstoffexport ergreift die Regierung bestenfalls halbherzig.

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