Mehr Müll im Meer

Die vermehrte Nutzung von Lieferdiensten in der Coronazeit wirft in Thailand die Bemühungen zur Reduktion der Plastikabfälle zurück

  • Thomas Berger
  • Lesedauer: 6 Min.

So schlimm die globale gesundheitliche Gefahr durch das Coronavirus ist, so schwerwiegend sind auch die wirtschaftlichen, oft auch sozialen und psychologischen Folgen des in den meisten Staaten weltweit seit März verhängten Lockdowns. Hinsichtlich der Umweltbelastungen, die der moderne Mensch dieser Tage auslöst, hatte das aus der Pandemie resultierende weitgehende Herunterfahren des normalen Alltags, die Einschränkungen wirtschaftlicher Aktivitäten und der ungehemmten menschlichen Bewegungsfreiheit und Reiselust teilweise deutlich positive Auswirkungen. In asiatischen Metropolen wie Peking oder Delhi konnten die Menschen erstmals seit Jahren wieder deutlich freier atmen, weil sich die übliche Smogglocke verzogen oder zumindest stark abgemildert hatte. Schließlich hatte beispielsweise Indien auf dem Höhepunkt der Krise auch landesweit den Verkehr bis auf wenige Ausnahmen nahezu komplett stillgelegt. Deutlich geleerte Straßen gab es einige Wochen lang rund um den Globus, Tier- und Pflanzenwelt konnten an vielen Stellen verschnaufen. Und auch hinsichtlich der Verschmutzung von Böden und Gewässern im Umfeld von sonst überfüllten Stränden zeichnete sich vielerorts mit dem erzwungenen Tourismusstop eine Entspannung ab.

Mag damit an anderen Orten auch das Problem Plastikmüll wenigstens temporär etwas abgenommen haben - in Thailand und gerade Bangkok ist dies nicht der Fall. Ganz im Gegenteil. Denn die Hauptstadt und mit Abstand größte Metropole des Landes verzeichnete zuletzt sogar eine deutliche Zunahme der entsprechenden Abfallberge. Allein im April betrug der Anstieg laut den zuständigen Behörden 62 Prozent. Schuld ist dabei tatsächlich die Coronakrise, die selbst die positiven Auswirkungen des seit Jahresbeginn geltenden Plastiktütenverbots mehr als aufwiegt. Denn in Zeiten, da die Schulen geschlossen sind, auch sonst viele Menschen zu Hause hocken, erleben Lieferdienste per App eine ungeahnte Blüte. Nicht nur generelles Onlineshopping nahm in den Wochen der erzwungenen weitgehenden Beschränkung auf das eigene Zuhause zu. Wer im Homeoffice arbeitete, hatte nicht unbedingt Zeit und Lust, um nebenher noch zu kochen. Also wurde häufiger das Essen bestellt - und mit reichlich Verpackung geliefert. Pro Tag zusammengerechnet 3432 Tonnen Plastikmüll, wie die Stadtverwaltung Bangkoks für den April bekanntgab. Das ist mehr als anderthalb Mal so viel wie die durchschnittlich im Vorjahr an einem Tag angefallenen 2115 Tonnen. Landesweit belief sich der Anstieg immerhin noch auf etwa 15 Prozent. Waren es vor Corona im Schnitt 5500 Tonnen, so stieg diese Zahl nun auf 6300 Tonnen, wie die Auswertung des Thailand Environment Institute besagt. Und das in einem Jahr, in dieses Müllsegment nach den Zielstellungen eigentlich um stolze 30 Prozent zurückgedrängt werden sollte.

Spitzenreiter Südostasien

Der Mensch hat allein in den letzten zehn Jahren mehr Plastik produziert als im gesamten 20. Jahrhundert. Ein Großteil landet im Abfall, und spätestens eine Studie von Ocean Conservancy aus dem Jahr 2017 legte es in aller Deutlichkeit offen: China, Indonesien, Philippinen, Thailand und Vietnam sind gemeinsam für mehr Plastikmüll-Einleitungen in die Weltmeere verantwortlich als alle übrigen Länder zusammen. Neben der zweitgrößten Volkswirtschaft sind es damit vier südostasiatische Staaten, die einen besonders markanten Anteil an dem globalen Problem haben. Dessen Folge: die Abfälle finden sich in den Ozeanen in gigantischen Müllstrudeln zusammeln, Wasservögel, Schildkröten und Meeressäuger verenden zuhauf daran und das beim langsamen Zersetzungsprozess entstehende Mikroplastik, das mittlerweile sogar im arktischen Eis nachweisbar ist, gelangt mit dem Fisch in die menschliche Nahrungskette.

»Unschuldige« gibt es in diesem Prozess, auf die Vielfalt der Länder betrachtet, kaum. Selbst in den scheinbar hoch entwickelten USA werden laut den gängigen Statistiken beispielsweise nur 9,5 Prozent des anfallenden Plastikmülls recycelt. Und bei nicht wenigen westlichen Industriestaaten gilt zum Teil die Masche »Aus den Augen, aus dem Sinn«, wird ein Teil dieser Berge eigentlich wiederaufbereitbaren Abfalls schlicht exportiert - zunächst vor allem nach China, nach dessen verhängten Schutzmaßnahmen gegen eine Vergrößerung des eigenen Problems vermehrt in südostasiatische Staaten.

Dort ist generell schon das Müllmanagementsystem äußerst lückenhaft, was die riesigen Mengen erklärt, die ganz direkt oder über Flussläufe im Meer landen. Auf den Philippinen waren es nach den Zahlen von 2015 zum Beispiel rund 81 Prozent der täglich anfallenden 6,24 Millionen Tonnen, die irgendwo in der Natur landeten - dabei waren sogar knapp drei Viertel davon zuvor schon eingesammelt worden. Das zugespitzte Problem allein in der Hauptstadtmetropole führte dazu, dass zuletzt unter anderem in der Bucht von Manila eine großangelegte Säuberungsaktion gestartet wurde. Indonesien wiederum hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2025 immerhin 70 Prozent seines im Meer landenden Plastikmülls zu reduzieren - und setzt pro Jahr umgerechnet eine Milliarde US-Dollar unter anderem für große Aufklärungskampagnen ein. Nichtregierungsorganisationen werden unterstützt, die Menschen in abgelegenen Gebieten, wo es gar keine geregelte Müllabfuhr gibt, selbst Plastikmüll einzusammeln.

Erst vor zwei Jahren, zum Weltumwelttag im Juni 2018, starteten in Südostasien erstmals im größeren Stil Aktivitäten, das Problem anzugehen. Seither hat unter anderem Thailand einzelne populäre Strandgebiete temporär für Säuberungen geschlossen und tun mehrere Länder auch gesetzlich etwas gegen die Flut an Plastiktüten, sei es mit Verbot wie Thailand oder wenigstens Einführung einer Gebühr, die zum Nachdenken anregen soll, wie in Vietnam. Thomas Berger

Als temporären Rückschlag im Kampf gegen die Plastikflut hat selbst Umweltminister Vurawut Silpa-archa die jüngsten Entwicklungen bezeichnet. Der zuständige Ressortchef im Kabinett von Premierminister Prayuth Chan-ocha gehört zu den jungen Gesichtern innerhalb der Regierung des Mannes, der 2014 die unblutige erneute Machtergreifung des Militärs anführte und seit der jüngsten Wahl nun mit einem demokratischen Mandat im Rücken weiter an den Schalthebeln der Macht sitzt. Mögen etliche seiner Minister ebenfalls ehemalige Generäle sein, gehört Vurawut nicht zu diesem Reigen. Der »Jungstar« aus einer etablierten, gut vernetzten konservativen Politikerfamilie - sein Vater Banharn Silpa-archa war zeitweise Premier - hat durchaus aus Überzeugung den Kampf gegen das leidige Plastikmüllproblem aufgenommen. So hätte sich vor anderthalb oder zwei Jahren kaum jemand vorstellen können, dass ein gesetzliches Verbot der früher allgegenwärtigen Plastiktüten tatsächlich kommen würde. Im Schnitt verbrauchte jeder Thai bis zum Vorjahr acht davon täglich. Auch jetzt will sich Vurawut, wie er der Nachrichtenagentur Reuters sagte, von den Rückschlägen nicht entmutigen lassen.

Dass es mehr ist als nur eine kleine Delle in einer bislang Hoffnungen machenden Zwischenbilanz, zeigen die Zahlen aber sehr deutlich. Im vergangenen Jahr hatten viele Thais, gerade auch die Einwohner der Zehn-Millionen-Metropole Bangkok, angefangen, sich stärker mit den Umweltfolgen des eigenen Konsumverhaltens auseinanderzusetzen, in dessen Zuge allein 200 Milliarden Einweg-Plastiktüten Jahr für Jahr auf den Müllbergen landeten - und am Ende nicht selten irgendwo im Meer. Doch in der Corona-Pandemie ist dies schwer aufrechtzuerhalten, weder in Thailand noch sonst wo auf der Welt. Erst mit der Lockerung der Corona-Beschränkungen wird auch wieder der normale Gang ins Restaurant und an den Imbiss möglich sein - bis dahin fahren jede Menge Kuriere Tüten mit abgepackten Bestellungen an die Kunden aus. »Dieser Plastikmüll könnte recycelt werden. Doch mit unserem ineffizienten Abfallmanagementsystem gelangt er zuhauf in die Umwelt, wo er Tiere gefährdet«, zitiert das Onlineportal Times of News den Leiter Teams »Plastikfreie Zukunft« bei Greenpeace Thailand, Pichmol Rugrod. Allein Grab, der thailändische Marktführer im Liefersektor mit Hauptsitz in Singapur, hat laut einem Beitrag der Deutschen Welle in der Coronazeit ein Nachfrageplus von 400 Prozent verzeichnet. Ähnlich sieht es mit einem Anstieg um 300 beziehungsweise 50 Prozent bei den Konkurrenten Line Man und Foodpanda Thailand aus.

Ganz untätig will Minister Vurawut diese aus der speziellen Situation resultierenden Rückschläge im generellen Bemühen nicht hinnehmen. Zusammen mit dem Verband Thailand Responsible Business Network hat seine Behörde ein Projekt aufgelegt, dass Thais zumindest animieren will, die zusätzlich anfallenden Müllmengen im Haushalt so zu trennen, dass recycle- und upcyclefähiges Material tatsächlich einer Wieder- oder Weiterverwertung zugeführt werden kann, stellte unlängst die Tageszeitung »Bangkok Post« den Ansatz vor. Bewusstseinsentwicklung könne dabei aber nur der erste Schritt sein. Abnahmemöglichkeiten sind notwendig - sie wurden im Mai nun vor allem an mehreren Stellen an der Hautgeschäftsstraße Sukhumvit, die sich kilometerlang durch das südliche Stadtzentrum zieht, eingerichtet. Mehrere Geschäfte, darunter eine Filiale des Einzelhandelsriesen Tesco Lotus, dienen als Sammelpunkte, von wo der Plastikmüll zu Recyclingzentren gebracht wird. Dass das Projekt in dieser begrenzten Dimension auf die Größe Bangkoks und die Gesamtmenge der Verpackungsabfälle nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein sein kann, dürfte den unmittelbar Beteiligten aber sehr wohl bewusst sein.

Zudem gesellt sich noch eine ganz besondere Komponente in Größenordnungen bei den Plastikmüllbergen hinzu: benutzte Schutzmasken. Genaue Zahlenangaben gibt es zwar noch nicht, doch Bangkoks Stadtverwaltung spricht davon, dass die nach der Benutzung weggeworfenen Mundnasenschutze einen massiven Anteil am Anstieg haben. In Thailand wird vorrangig auf das Einwegprodukt zurückgegriffen, das anschließend im Müll landet. In elf städtischen Krankenhäusern unter der Hoheit der Stadtverwaltung, 69 Gesundheitsstationen sowie den beiden zentralen Verwaltungssitzen und 50 weiteren Büroeinheiten sind inzwischen immerhin extra Behältnisse zur Entsorgung der Masken aufgestellt worden.

Thailands Kämpfer*innen gegen die Plastikmüllberge wollen trotz der zuletzt negativen Schlagzeilen nicht aufgeben. Der aktuelle Trend werde nicht dauerhaft anhalten, glaubt selbst Pichmol. Hoffnung gibt ihm, dass auch Anbieter wie Indy Dish vertreten sind - eine Lieferplattform, die wiederverwendbare Essensboxen einsetzt, für die von den Kund*innen Pfand bezahlt wird. Ein Beispiel, dem weitere Firmen folgen könnten, so der Greenpeace-Vertreter gegenüber »Times of News«. Ein allererster Schritt sei, dass andere immerhin schon begonnen hätten, Kund*innen bei der Bestellung zu fragen, welches Zubehör wie Plastikbesteck diese tatsächlich benötigten. Dies könne im besten Fall zur neuen Norm werden.

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