nd-aktuell.de / 17.07.2020 / Kultur / Seite 12

»Eine Flucht ist traumatisierend«

Burhan Qurbani über die Legalisierung von Drogen, seltsame Vorstellungen über Deutschland, die Flucht seiner Eltern aus Afghanistan und seinen Film »Berlin Alexanderplatz«

Ralf Krämer

In Ihrem Film »Berlin Alexanderplatz« wird erklärt, wie der Drogenhandel im Berliner Park Hasenheide organisiert ist. Wie haben Sie das recherchiert?

Ich lebe in der Nähe der Hasenheide, sehe jeden Tag, was dort passiert, wie die Abläufe sind, und habe versucht zu verstehen, wer diese Menschen sind. Als wir vor ein paar Jahren angefangen haben, für diesen Film zu recherchieren, habe ich mir diese Beobachtungen erst mal notiert. Dann sind wir von außen nach innen gegangen, haben Interviews mit der Polizei geführt und auch Kontakt zu einzelnen Dealern aufgenommen.
Francis, die Hauptfigur Ihres Films, ist ein Flüchtling aus Guinea-Bissau. Er verliert seinen illegalen Job auf einer Großbaustelle und gerät dann in die Dealer-Szene.
Im Laufe der ersten Recherchen haben wir gemerkt, dass wir auch darüber viel mehr erfahren müssen. Was heißt es eigentlich, staatenlos in einem illegalen Flüchtlingsheim zu leben? Wir haben viel mit Flüchtlingsverbänden und Schutzsuchenden gesprochen, viel gelesen und Filme zu dem Thema angeschaut.

Was würde die Situation für einen Dealer wie Francis eher verbessern – die Legalisierung von Drogen oder ein erleichterter Zugang für Geflüchtete zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt?

Ich finde beides ganz gut. Wenn man Drogen kriminalisiert, klebt immer Blut dran. Ich denke, dass die Legalisierung, zumindest von weichen Drogen, ein wichtiger Schritt wäre. Und natürlich wäre es wichtig, die bürokratischen Prozesse zu beschleunigen, um den Menschen, die hier Zuflucht suchen, auch Beschäftigungs- und Ausbildungsmöglichkeiten zu geben. Aber bis dahin ist es wohl noch ein ziemlich langer Weg. Mein Film soll ja genau auf diese Umstände stoßen, dass es einen strukturellen Rassismus gibt, der Menschen ausschließt aus unserer Gesellschaft.

Aber schließt sich jemand, der als Dealer arbeitet, nicht auch selbst aus der Gesellschaft aus?

Ich glaube, dass kein Mensch freiwillig in der Illegalität arbeitet. Das macht keinen Spaß, man ist ständig unter Druck. Ein Leben in der Legalität ist immer angenehmer als in der Illegalität. Und ich wollte die Geschichte eines solchen Mannes erzählen, der versucht, sich aus der Illegalität herauszuarbeiten. Aber ich habe einen Schlüssel gebraucht. Das wurde für mich »Berlin Alexanderplatz«.

Der berühmte, 1929 erschienene Roman von Alfred Döblin, die Vorlage Ihres Films.

Mit diesem Roman habe ich mich in meiner Jugend viel auseinandergesetzt. Und dann haben sich diese beiden Geschichten wie zwei Folien übereinandergelegt. Döblins Franz Biberkopf ist ein Kleinkrimineller, der in einer Parallelwelt in der Innenstadt von Berlin lebt und nicht wirklich zur bürgerlichen Gesellschaft gehört. Er ist zwar da, wird aber nicht wirklich gesehen. Und so ging es mir mit diesen Männern im Park eben auch. Männer, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt sind. Sie sind ein Teil des Alltags in Berlin, aber wir würden mit denen niemals ins Gespräch kommen, mit deren Paralleluniversum gibt es keine Bezugspunkte. Und sowohl Franz Biberkopf als auch der Francis aus meinem Film haben beide den Wunsch, in die Mitte der Gesellschaft aufzurücken. Daran arbeiten sie sich ab.

Francis’ Unterkunft ist ein abgelegener, heruntergekommener Plattenbau am Waldrand. Ein Trakt wird als improvisiertes Bordell benutzt. Wie realistisch ist das?

Das war tatsächlich inspiriert von der Dokumentation »Eldorado« von Markus Imhoof, die 2018 auf der Berlinale lief. Da wurde von den Flüchtlingen erzählt, die in Italien ganz schnell von der Tomatenindustrie eingesackt worden sind. Und abends gab es dann total ekelerregende Bilder von langen Autoketten, die sich vor den illegalen Unterkünften dieser Flüchtlinge bildeten. Dort haben italienische Männer auf die schwarzen Prostituierten gewartet.

In Ihrem Film ist das Verhältnis von Francis und Reinhold metaphorisch aufgeladen. Es gibt eine Maskenballszene, in der sich der schwarze Francis in ein Affenkostüm stecken lässt, während Reinhold als weißer Kolonialherr mit Tropenhelm auftritt. Wie viel Kolonialkritik steckt in »Berlin Alexanderplatz«?

Im Roman geht es sehr um die toxische Freundschaft, dieses Ungleichgewicht an Macht zwischen diesen beiden Männern. Uns war klar: Wenn wir in Deutschland im Jahr 2020 diese Geschichte von einem schwarzen Mann und einem weißen Antagonisten erzählen, dann erzählen wir auch eine postkoloniale Geschichte, dann geht es auch um das Gefälle von Erster Welt und Dritter Welt, um Hautfarbe, schwarz und weiß, arm und reich.

In einer Szene hält Francis eine Rede in der Flüchtlingsunterkunft und sagt: »Nennt mich nicht Flüchtling, nennt mich Neuankömmling! Ich habe eine schicke Jacke, ich fahre ein deutsches Auto, ich habe eine deutsche Freundin. Ich bin gekommen, um hier zu bleiben. I am the German 
Dream. Ich bin Deutschland!«

Ich liebe diese Szene, wir haben im Schnitt auch eine Mini-Replik auf die deutsche Nationalhymne da reingebaut. Was Francis da sagt, würde ich aber gerne in den Kontext einer weiteren Rede stellen, die in einer späteren Szene von der Transperson Berta gehalten wird.
Berta hält diese Rede in einem Club, zur Eröffnung des erwähnten Maskenballs.

Sie sagt: »Willkommen in der neuen Welt. Wir sind die neuen Deutschen. Wir haben uns für uns entschieden.« Wenn Francis seine Rede hält, steht er da und sagt in einer totalen Wahrhaftigkeit: Ich habe keinen Bock mehr, »Flüchtling« genannt zu werden. Hört auf, mich zu stigmatisieren. Aber dann dreht sich das in einen Zynismus, wenn er anfängt, den anderen Flüchtlingen den materialistischen westlichen Traum zu verkaufen, um sie als Dealer zu rekrutieren.

Hatten Sie Spaß daran, mit diesem Francis einen personifizierten Alptraum von Björn Höcke als Heldenfigur zum Leben zu erwecken?

(Lacht) Spaß hatten wir auf jeden Fall. Ich weiß nicht, ob Björn Höcke den Film sehen würde. Ich glaube nicht, dass er ihn mögen würde, und ich glaube nicht, dass das Land, von dem wir erzählen, seiner Vorstellung von Deutschland entspricht. Aber das ist halt das Land, in dem ich leben möchte, in dem ich mich als Deutschen bezeichnen darf, trotz meines Phänotyps. Höcke hat ja eine sehr verschwommene Vorstellung vom Patrioten als »biodeutschem Steuerzahler«. Steuerzahler bin ich, biodeutsch nicht. Und trotzdem würde ich sagen: Ich bin deutsch. So geht es meinen Hauptfiguren auch. Und sie legen sich eine Maximalforderung zu: Wir sind hier und hier bleiben wir.

Ihre Eltern sind 1979 aus Afghanistan nach Deutschland geflohen. In einem Interview sagten Sie, man würde ein Teil seiner Würde verlieren, wenn man gezwungen ist, seine Familie, seinen Rückhalt und seine Selbstsicherheit hinter sich zu lassen.

Ich glaube, wir verstehen oft nicht, wie traumatisierend eine Flucht ist. Allein die Tatsache, dass man gezwungen ist, die Heimat zu verlassen, ist erst mal ein traumatisierendes Moment. Man verliert seine Selbstständigkeit und auch seine Selbstsicherheit. Ich merke das, wenn ich in Länder gehe, in denen ich die Sprache nicht spreche. Da fühle ich mich schon maximal gestresst, wenn ich nicht kommunizieren kann. Wenn ich mir dann noch vorstelle, dass ich nichts habe, außer vielleicht eine Tasche, dass ich irgendwo in einem fremden Land in ein Heim verfrachtet werde, es keinen Anschluss zur Gesellschaft gibt und ich durch strukturellen Rassismus oder durch bürokratische Hemmnisse daran gehindert werde, mich einzuleben in ein normales Leben, dann ist das traumatisierend, das ist maximaler Stress.

Wie hat sich Ihre Familie wieder ein Gefühl von Würde erarbeitet?

Sie haben es auch durch die Möglichkeiten geschafft, die der Staat geboten hat. Meine Eltern sind als Kriegsflüchtlinge mit Anfang 20 und mit zwei Koffern am Frankfurter Flughafen angekommen. Mein Vater hat studiert und dann eine Anstellung gefunden. Meine Eltern haben sich dann peu à peu über die Jahre in die Mittelschicht gearbeitet. Über ihre Arbeit, ihre Leistung sind sie an einen Punkt gekommen, wo sie ihren Kindern ein besseres Leben anbieten konnten, in einer Gesellschaft, in der die Bildung umsonst und das Gesundheitssystem so gestaffelt war, dass sie sich nie Sorgen machen mussten, krank zu werden und dadurch die Arbeit zu verlieren. Es ist unfassbar, dass so etwas möglich ist.

Aber die Würde ist ja eigentlich jedem Menschen ohnehin gegeben, oder?

Ich bin ja ein großer Fan unserer Verfassung, in der es heißt »Die Würde des Menschen ist unantastbar« und die sagt, dass es die Aufgabe aller staatlichen Gewalt ist, sie zu schützen. Auch dass nach Artikel 5 jeder frei sprechen darf, dass Kunst und Presse frei sind und ich auch kritisieren darf, was ich an diesem Staat nicht richtig finde, das ist eigentlich unglaublich. Ja, wir haben unsere Würde zurück. Meine Eltern haben es geschafft, hier anzukommen. Sie sind hier nicht geboren, aber sie werden hier sterben und es wird ihre letzte Heimat sein. Ich bin hier geboren und ich will hier sterben, es wird auch meine letzte Heimat sein. Darüber bin ich unendlich froh.