Norwegens offene Wunde

Die Anschläge von Anders Breivik kamen nicht aus dem Nichts

  • Robert Stark
  • Lesedauer: 3 Min.

Neun Jahre ist es an diesem Mittwoch her, dass der rechtsextreme Terrorist Anders Breivik in Norwegens Hauptstadt Oslo und in einem Jugendzeltlager auf der Insel Utøya 77 Menschen ermordete. Noch immer wird um die Einordnung des Anschlags gestritten. Die Frage, inwieweit der Attentäter ein psychisch kranker Einzeltäter war, oder ob es eine Verbindung zwischen seinem Denken und den weit verbreiteten, rassistischen und muslimfeindlichen Auffassungen in Norwegen gibt, führt bis heute zu unterschiedlichen Bewertungen des Anschlags.

Aina Berg (Name geändert), eine Osloer antifaschistische Aktivistin, schätzt ein: «Ein Großteil der norwegischen Gesellschaft behandelt die Anschläge wie eine Art Naturkatastrophe und nicht als einen rechtsradikalen Terroranschlag.» Bereits direkt nach den Attacken seien Breiviks Taten als ein Anschlag auf Norwegen und alle Norweger gedeutet worden. Doch dieser habe seine Ziele aus bestimmten Gründen gewählt. «Langsam beginnt dieses Narrativ aber zu bröckeln», schätzt Berg ein.

Es war Freitag, der 22. Juli 2011 um 15.25 Uhr, als Breivik im Regierungsviertel der norwegischen Hauptstadt eine Autobombe detonieren ließ, die acht Menschen das Leben kostete. Nach dem Anschlag fuhr der mit einer Polizeiuniform Bekleidete zu der etwa 30 Kilometer entfernten Insel Utøya. Dort fand gerade das jährliche Sommerlager der Jugendorganisation der Sozialdemokratischen Partei mit mehr als 560 Teilnehmern statt. Wahllos eröffnete Breivik das Feuer auf die zeltenden Jugendlichen und ermordete 69 von ihnen. In einem im Internet verbreiteten, über 1500 Seiten langen Pamphlet rechtfertigte Breivik seine Taten damit, Europa vor «Islamisierung und Kulturmarxismus zu verteidigen».

Ein Motiv des Terroristen war es demnach, mögliche zukünftige sozialdemokratische Politiker zu töten, bevor diese die Gesellschaft mit Feminismus und Multikulturalismus angeblich weiter zersetzen könnten. Breiviks Terroranschlag war der schlimmste in der norwegischen Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg.

Die norwegische Öffentlichkeit versucht, einen adäquaten Umgang mit den Anschlägen zu finden. Den Strafprozess gegen Breivik beherrschte anfänglich die Diskussion um die Zurechnungsfähigkeit des Täters. In einem ersten Gutachten war eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert und Breivik damit für unzurechnungsfähig erklärt worden. Aus der Fachwelt gab es harsche Kritik an diesem Gutachten. So war darin Breiviks Ansicht, er befinde sich inmitten eines Bürgerkriegs, als ein Zeichen seiner Paranoia gedeutet worden. In militant-rechtsextremen Kreisen ist diese Sichtweise allerdings weit verbreitet. In einem zweiten Gutachten wurde er letztlich für schuldfähig erklärt. Breivik erhielt die Höchststrafe von 21 Jahren Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung.

Gegenstand von Debatten bleibt auch die Rolle der neoliberalen und rechtspopulistischen Fortschrittspartei, die seit 2013 Teil der Regierungskoalition ist. Breivik war mehr als zehn Jahre lang Mitglied der Partei. Obwohl der Partei keine direkte Mitverantwortung gegeben wird, weist ihre Anti-Migrationspolitik und scharfe Ablehnung der Sozialdemokratie ideologische Bezüge zu Breiviks Manifest auf. In Chats und im Internet tummeln sich weiterhin etliche antimuslimische und rassistische Gruppen aus Norwegen mit großem Anhang, darunter die Organisation «Stopp Islamiseringen av Norge (Stoppt die Islamisierung Norwegens). »Man findet dort Leute, die Breiviks Terror mehr oder weniger befürworten«, betont die Antifaschistin Berg.

Erst 2015 wurde im Osloer Regierungsviertel ein Informationszentrum über die Anschläge eröffnet. Auf Utøya selbst wurde 2016 ein neues Bildungszentrum errichtet. Dessen Dachkonstruktion tragen 69 Säulen – die Zahl der Opfer. Hier können Jugendliche und politische Aktivisten mit Überlebenden diskutieren und lernen, Hassreden und Rassismus entgegenzutreten.

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