Plötzlich verstummt

Eine Erinnerung an Wolfgang Schmidt, von den Feuilletons einst gefeiert - und heute vergessen?

  • Ralf Höller
  • Lesedauer: 6 Min.

Er war 70, als sein erster Roman erschien. Rasch folgten zwei weitere. Dann verschwand er in der Versenkung: Wolfgang Schmidt. »Meine Schreiberei ist nicht so sinnlos«, befand er, »da ich, glaube ich, der letzte bin, der über die deutschsprachige Welt der 30er Jahre im Böhmerwald geschrieben hat.« Das machte er so gut, dass Schmidt nicht nur Heimatvertriebenen ein Begriff war. Große Verlage wie Scherz und dtv veröffentlichten seine Romane. Bis heute sind die ersten beiden, »Die Geschwister« und »Albertines Knie«, bei Fischer im Programm. Auch die Feuilletons erwiesen Schmidt ihre Ehre. Das Börsenblatt für den deutschen Buchhandel feierte die »Entdeckung eines neuen deutschen Erzählers«, und die »Süddeutsche Zeitung« forderte nach einer »durchaus begeisterten Rezension« von Schmidts Erstling, der Nachfolger »soll nicht der letzte sein«. Es kam dann aber nur noch ein Roman.

Schmidt begann spät mit dem Schreiben. Ein halbes Leben hatte er bis dahin in Kanada verbracht, die längste Zeit als Suchtforscher des Addiction Research Center in Toronto. Doch gab es noch ein Vorleben, vor dem Zweiten Weltkrieg. Daraus schöpfte Schmidt den Rohstoff für seine Geschichten, den er mit der größten menschlichen Sucht anreicherte: der Liebe in all ihren Variationen, auch den weniger konventionellen.

1923 in Passau geboren, war er sechs, als die Familie nach Český Krumlov zog, wo der Vater trotz Wirtschaftskrise eine Arbeitsstelle in der Papierfabrik im Vorort Větřní gefunden hatte. Krumau an der Moldau nannten die deutsch-böhmischen Bewohner »ihr« Städtchen, in dem sie in der Zwischenkriegszeit die deutliche Bevölkerungsmehrheit stellten. Während sich bei der Volkszählung 1930 zwei Drittel der 14,7 Millionen Einwohner des gesamten Landes als Tschechen, Slowaken oder Tschechoslowaken bezeichneten - gegenüber 22,5 Prozent Deutschen -, bekannten sich fast drei Viertel der Krumauer zum Deutschtum.

Die Welt der Deutschböhmen in den 30er Jahren war ein Anachronismus. In Deutschland regierten die Nationalsozialisten und hatten mit ihrer Politik und Propaganda den Alltag derart durchdrungen, dass von der äußeren Erscheinung her eine Kleinstadt sich komplett anders darstellte als noch während der Weimarer Republik oder im Kaiserreich. Anders in den überwiegend von Deutschen besiedelten böhmischen Grenzregionen: Hier hatte es mit der Gründung der Tschechoslowakei zwar eine politische Zäsur gegeben, das Alltagsleben in Orten wie Krumau erfuhr dagegen keine gravierende Veränderung gegenüber der Vorkriegszeit. Und als fast alle Staaten Mitteleuropas autoritäre Regime bekamen, hielt allein Prag die Fahne der Demokratie aufrecht. Davon profitierten nicht zuletzt die Sudetendeutschen, deren Politiker sich bis 1935 mehrheitlich aktivistisch verhielten und auch in den verschiedenen Regierungen präsent waren.

Das Zusammenleben der beiden größten Volksgruppen (es gab mehr Deutsche als Slowaken) schien dennoch mehr ein Neben- als ein Miteinander. Es fällt auf, dass in Schmidts Romanen so gut wie keine Tschechen vorkommen. Auch nicht in seinem Debüt »Die Geschwister«. Es ist die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft in ebenjenem Schicksalsjahr 1935. Der Ort der Handlung wird nicht genannt, doch deuten die Hinweise auf Krumau. Das Leben in der südböhmischen Provinz beschreibt Schmidt so präzise wie jemand, der auch dort aufgewachsen ist. Die Verhältnisse, bürgerlich, oft spießig, manchmal auch liberal, ließen sich auf jede andere deutsche Kleinstadt übertragen. Nur: Wo gab es diese noch?

Schmidt schildert eine Dreiecksgeschichte, mit ungewöhnlicher Konstellation. Hans Wild, der passive, stets auf der Suche befindliche Ich-Erzähler, verehrt seinen hochgebildeten, aus einfachsten Verhältnissen stammenden Mitschüler Jordan Tahedl. Dessen Schwester Therese begehrt er, aber die Beziehung bleibt platonisch. Als Partner würde Hans das intime Geschwisterpaar nur stören, als Freund ist er willkommen. Es ist jedoch nicht das inzestuöse Verhältnis, im Roman nur angedeutet und wertfrei abgehandelt, das Unheil heraufbeschwört. Zur Katastrophe kommt es, als ein Vierter mitmischt. Dieser wird kurzerhand umgebracht, der Fall nie aufgeklärt, auch weil Hans Wild, der Mitwisser, im Verhör stillhält. Zuvor hat er seinem Gewissen abgerungen, mit der »Tat, die gängigen Maßstäben nicht unterworfen war«, Frieden zu schließen.

Ist das der Stoff, aus dem Trivialromane gewebt sind? Nicht so in »Die Geschwister«: Schmidt bleibt als Erzähler viel zu souverän, als dass er sich in Kategorien wie Gut und Böse verlieren oder einen vorhersehbaren Ablauf inszenieren würde. Jede seiner Figuren ist facettenreich, entwicklungsfähig, mit Stärken und Schwächen ausgestattet und voller Widersprüche. Selbst das Mordopfer, einziger Unsympath im Roman, war zu echten Gefühlen fähig. Dagegen verstricken sich Hans und Jordan, beide von einnehmendem Wesen, in ein Geflecht aus Eitelkeit, Egoismus und Eifersucht - Charakterschwächen, die jede für sich schlimmer sind als sämtliche Verstöße gegen eine von wem auch immer diktierte Moral.

Bei aller erzählerischen Brillanz und psychologischen Finesse stellt sich die Frage, ob der Roman angesichts Ort und Epoche als Zeitdokument taugt. Schließlich wurde er abgefasst, nachdem mehr als ein halbes Jahrhundert seit den beschriebenen Ereignissen verstrichen war. Schmidt ist sich dessen bewusst. Als retrospektiver Erzähler unterbricht er gelegentlich die Romanhandlung, etwa wenn ihm sein Gedächtnis einen Streich zu spielen droht. So bei der Beschreibung seines Gymnasiums: »Ich suche die Wände nach Bildern ab, finde aber keine, also müssen sie kahl gewesen sein. Doch da taucht plötzlich ein mittelgroßer, dunkel gerahmter Masaryk in einem weißen Passepartout auf. Hing Masaryk tatsächlich in unserem Klassenzimmer?« Selbstverständlich hing er dort! Es war das letzte Regierungsjahr des auch unter Deutschböhmen geachteten Präsidenten. Indem Schmidt solche scheinbaren Wissenslücken thematisiert, erhöht er en passant seine Glaubwürdigkeit, denn seine Erinnerung, voilà, funktioniert!

Sie funktioniert so gut, dass der Leser mit Hans Wild durch Krumaus Straßen geht, sich mit ihm in Cafés setzt, eine Schulstunde im Gymnasium absolviert, ein Liebespaar im Schlosspark beobachtet und ihn davon abhalten will, einem weiteren an der Moldau aufzulauern. Schmidts Ortskenntnis verblüfft. Gelegenheit, sie aufzufrischen, hatte er selten. Einmal im Jahr besuchte er aus dem kanadischen Exil seine Verwandtschaft in Mannheim, lieh sich ein Auto und unternahm Reisen, meist nach Italien, ebenso Niederbayern und, seltener, nach Český Krumlov.

Aussagekräftig ist auch, was im Roman weggelassen wird. Von Politik ist selten die Rede. Masaryk wird zweimal erwähnt, Konrad Henlein sorgfältig verschwiegen, obwohl sein Aufstieg vom allseits belächelten »Turnlehrer aus Asch« zum ernst zu nehmenden Politiker in ebenjenem Jahr 1935 begann. Unpolitisch ist der Roman »Die Geschwister« deswegen noch lange nicht. »In meinen Büchern entdeckt man im Hintergrund immer etwas sehr Unheilvolles«, bekannte der Autor, »dies ist mein Ausdruck der geschichtlichen Entwicklungen, die Europa bevorstanden.«

Schmidts Nachfolgeromane sind eher monothematisch. »Albertines Knie« hat eine lesbische Liebe zum Gegenstand, mit einem mal mehr, mal weniger involvierten Ich-Erzähler. Politisch wird es erst am Ende, als das Münchner Abkommen mit seinen Folgen alle Energie aus den Protagonisten zieht. Zur sich abzeichnenden historischen Katastrophe gesellt sich die persönliche Resignation: »Ich habe Albertine nie wiedergesehen«, verzweifelt Willi, der Protagonist, im letzten Satz. Tragisch, wenn auch konventionell geht es in Schmidts letztem Roman zu, »Sie weinen doch nicht, mein Lieber?«.

Danach erschien nichts mehr von Schmidt. War seine Zeit zu Ende? Zumindest seine Gesundheit war ruiniert. Der Graue Star, an dem er litt, hatte zur vollständigen Erblindung geführt. Anfang April 2013 wählte Schmidt den Freitod, gemeinsam mit seiner ebenfalls schwer kranken Frau Marianne. Beiden schien ein würdevolles Dasein nicht mehr möglich.

Jugend in Böhmen, Karriere in Kanada, Krönung als Romancier - die drei Leben des Wolfgang Schmidt. Zur Vollendung fehlt ein Schritt: Noch hat sein letztes Manuskript, »Der Hedonist«, keinen Verleger gefunden.

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