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  • Kultur
  • Klingsors letzter Sommer

»Im alten Europa ist alles gestorben«

Vor 100 Jahren entstand »Klingsors letzter Sommer« von Hermann Hesse

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

Hundert Jahre alt ist die Erzählung, doch liest man sie wie für den heutigen Tag geschrieben - als Aufschrei einer Künstler-, einer Menschenseele gegen die Vergänglichkeit, gegen diese Furcht, die dunkel ins Zimmer tritt und es irgendwann nicht mehr verlässt. Hermann Hesse war erst 42, als er seine Junggesellenwohnung in Montagnola über dem Luganer See bezog. Den Ersten Weltkrieg hatte er im Dienst der deutschen Gesandtschaft in Bern verbracht und ehrenamtlich für die deutsche Kriegsgefangenenfürsorge gearbeitet. Zwar hatte er seiner starken Kurzsichtigkeit wegen nicht an die Front gemusst, aber er spürte, dass etwas zerbrochen war. Seine Ehe war zerrüttet, mit der Betreuung seiner drei Kinder fühlte er sich überfordert und brachte sie bei Freunden und Bekannten unter. Das Jahr 1919 sah ihn allein in ländlicher Idylle. Dort ist dann seine Erzählung »Klingsors letzter Sommer« entstanden.

Die ist seitdem in zahlreichen Buchausgaben erschienen, meist mit Illustrationen ihres Verfassers, der zwar erst als Vierzigjähriger im Rahmen einer psychoanalytischen Behandlung mit dem Malen begonnen hatte, wie Claus Lorenzen im Nachwort dieses Bandes schreibt, aber neben kleinformatigen Vignetten mehr als 3000 Aquarelle hinterließ. Der Verleger von Officina Ludi verließ nun die eingefahrenen Wege und ließ das Werk künstlerisch durchgehend neu gestalten - nicht durch irgendwen, sondern durch Hesses Urenkelin. Die Schweizer Künstlerin Karin Widmer ist mit Skizzenblock und Aquarellkasten nicht nur durch jene Gegenden gewandert, die ihren Großvaters beeindruckten, sie hat auch die dunklen Seiten der Erzählung ins Bild gebracht.

Hesse schildere »die klassischen Merkmale einer manisch-depressiven Erkrankung«, schreibt Lorenzen. Andere Interpretationen heben den Narzissmus, die egozentrische Selbstüberschätzung der Hauptgestalt hervor. Was einst grenzwertig erschien, ist womöglich heute in einer »Gesellschaft der Singularitäten« (Andreas Reckwitz) zur Norm geworden, zumindest in der kreativen Mittelschicht.

Überraschend gegenwärtig mutet an, was der Maler Klingsor (benannt nach einer Zauberergestalt aus der mittelhochdeutschen Literatur) an Widersprüchen mit sich herumträgt. Poetisch dicht, in sanft fließenden Sätzen voller sprachlicher Kraft sind die Zweifel eines sensiblen schöpferischen Menschen beschrieben, ob seine künstlerischen Bemühungen Sinn ergeben angesichts persönlicher Vergänglichkeit. Die Sehnsucht nach etwas Allumfassenden: »Warum gab es Zeit? Warum immer nur dieses idiotische Nacheinander und kein brausendes, sättigendes Zugleich? … Und wie schön und peinigend und unbegreiflich war dies Gefühl in seiner Brust, diese Liebe und flackernde Gier nach jedem bunten Band und Fetzen des Lebens, dieser süße wilde Zwang zu schauen und zu gestalten und doch zugleich heimlich, unter dünnen Decken, das innige Wissen von der Kindlichkeit und Vergeblichkeit all seines Tuns!«

Alkohol und erotische Fantasien, Freunde, die den Maler verstehen - doch insgesamt schwebt über der südlichen Landschaft eine Krisenstimmung, die die Gegenwart vorwegzunehmen scheint. Ein gemeinsames Mahl in der Nacht zum 1. August vor 100 Jahren: Tische unter Bäumen, anwesend ein lächelnder Asiate. Und Klingsor spricht »von unsrem alten Europa, das zweitausend Jahre lang das Gehirn der Welt zu sein glaubte. Dies geht unter. Meinst du, Magier, ich kenne dich nicht? Du bist ein Bote aus dem Osten … Du bist hier, weil hier das Ende beginnt.« Oder neigt die Ich-Gesellschaft stets dazu, das eigene Ende für das der Welt zu halten?

Hermann Hesse: Klingsors letzter Sommer. Illustriert von Karin Widmer. Officina Ludi, 104 S., in bedrucktes Leinen gebunden, 19,80 €.

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