Stubendurchgang statt Durchsuchung

Der Anschlag auf junge Menschen aus Osteuropa in Düsseldorf-Wehrhahn ist bis heute nicht aufgeklärt

Düsseldorf Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre. Die nordrhein-westfälische Landeshauptstadt hat eine umtriebige Neonaziszene. Es gibt Übergriffe und Aufmärsche. Eine zentrale Figur ist Sven Skoda. Er ist in der »Kameradschaft Düsseldorf« aktiv, betreibt anfangs noch aus seinem Kinderzimmer das »Nationale Infotelefon Rheinland«, einen Anrufbeantworter, bei dem sich Neonazis über anstehende Aufmärsche und Ähnliches informieren können.

Zum Umfeld der Kameradschaft gehört auch Ralf S., der einen Laden für Militärklamotten sowie die entsprechende Ausrüstung betreibt. Auch Rechtsrock-CDs und die entsprechenden Hefte gibt es bei ihm zu kaufen. Ralf S. ist außerdem als selbsternannter »Sheriff« des Stadtteils Flingern bekannt. Mit seinem Hund streift er, natürlich militärisch gekleidet, durch den Kiez. Seinem Laden gegenüber befindet sich eine Sprachschule. Viele Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion besuchen sie - Kontingentflüchtlinge, die zur jüdischen Gemeinde gehören und auf ein besseres Leben in Deutschland hoffen. Ralf S. und seine Kundschaft gelten als aggressiv. Pöbeleien sind an der Tagesordnung. Auch die Sprachschüler sollen Opfer von Verbalattacken geworden sein.

Am 27. Juli 2000 um 15.03 Uhr explodiert ein Sprengsatz am S-Bahnhof Wehrhahn. Der Bahnhof hat einen Zugang über eine Brücke. Dort hängt eine Plastiktüte. Gefüllt ist sie mit einer Rohrbombe. Als die Sprachschüler auf der Brücke sind, detoniert sie. Zehn Menschen werden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Eine im fünften Monat schwangere Frau verliert ihr Kind. Nach dem Anschlag wird in alle Richtungen ermittelt. Vermutet wird eine Beziehungstat, die russische Mafia steht unter Verdacht, schließlich kommen die Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion. Auch eine islamistische Tat wird nicht ausgeschlossen. Düsseldorfer Antifagruppen weisen am Tag nach dem Anschlag auf die aktive Neonaziszene hin. Die Erkenntnis, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um einen rechten Anschlag gehandelt hat, setzt sich durch. Eine Woche nach der Tat nehmen 2000 Menschen an einer Demo teil, zu der Antifagruppen, Migrantenorganisationen und die jüdische Gemeinde aufgerufen haben.

Die Ermittler haben Hunderte Spuren zu sichten. Auch auf Ralf S. werden sie schnell aufmerksam. Eine erste Hausdurchsuchung bei ihm wird der Leiter der Ermittlungskommission, Dietmar Wixfort, später im NSU-Untersuchungsausschuss des Landtags als »oberflächlichen Stubendurchgang« kritisieren. Die Durchsuchung war vom polizeilichen Staatsschutz durchgeführt worden. Eine weitere gründliche Durchsuchung wenig später verläuft praktisch ohne Ergebnisse.

In den folgenden Jahren wird weiter ermittelt. Ohne nennenswerte Resultate - bis zum Jahr 2014. Ralf S. sitzt in Haft, weil er eine Geldstrafe nicht gezahlt hatte. Ein Mitgefangener, Ex-Soldat wie S., meldet sich bei der Anstaltsleitung. Der Zellennachbar habe ihm gegenüber den Wehrhahn-Anschlag gestanden. Die Polizei beginnt wieder zu ermitteln. Ex-Freundinnen belasten S.. Am 1. Februar 2017 nimmt ihn die Polizei fest. Die Staatsanwaltschaft glaubt, genug Beweise gegen Ralf S. zu haben. Ein Jahr später, 18 Jahre nach der Tat, beginnt vor dem Düsseldorfer Landgericht der Prozess gegen den Rechtsradikalen. Ihm wird zwölffacher versuchter Mord vorgeworfen.

In dem Verfahren werden Weggefährten aus der Neonaziszene ebenso gehört wie ehemalige Lebensgefährtinnen und der Mitgefangene von S. Der Angeklagte bestreitet die Tat und zeigt sich zugleich als Selbstdarsteller, Frauenfeind und Nationalist. S. will im Häuserkampf ausgebildet worden sein und den Umgang mit Sprengstoff gelernt haben. Ein Bundeswehroffizier bestreitet dies. Nach wenigen Monaten spricht das Gericht S. frei. Zentral für diese Entscheidung: ein Telefonat, das S. von seiner Wohnung aus wenige Minuten nach der Tat geführt haben soll. Er hätte den Weg vom S-Bahnhof, wo die Bombe ferngezündet wurde, bis zur Wohnung so schnell nicht zurücklegen können, heißt es.

Auch an seinen technischen Fähigkeiten zweifelt das Gericht. Prozessbeobachter wie die Gruppe NSU-Watch NRW sehen das anders. Sie werfen den Ermittlungsbehörden vor, der späte Prozess und oberflächliche Ermittlungen hätten die Aufklärung erschwert.

Zwar könnte die juristische Aufarbeitung weitergehen, wenn der Bundesgerichtshof in einigen Wochen eine von der Staatsanwaltschaft beantragte Revision zulässt. Doch unabhängig davon bleibt vieles im Kontext des Wehrhahn-Anschlags ungeklärt. Ein V-Mann des Verfassungsschutzes, der für S. als Wachmann arbeitete, hätte unter Umständen wichtige Erkenntnisse liefern können. 2004 soll er gesagt haben, »Rechte aus dem Osten« hätten den Anschlag begangen und seien dabei von Düsseldorfer Neonazis gedeckt worden. Die Polizei erfuhr erst viele Jahre später von dieser Aussage.

Der Anschlag und seine Aufarbeitung haben viele Merkmale, die auch auf aktuelle Ereignisse zutreffen: ein Ex-Soldat als Hauptverdächtiger, ein undurchsichtig agierender Verfassungsschutz und schlampige Ermittlungen.

Für mehr Aufklärung müsste es einen Untersuchungsausschuss geben. Im nordrhein-westfälischen NSU-Untersuchungsausschuss wurde fast überhaupt nicht über Wehrhahn gesprochen. Die Mitglieder freuten sich 2017 über die Festnahme von Ralf S. und darüber, dass sie durch ihr mit Polizei und Staatsanwaltschaft abgesprochenes Schweigen das Verfahren nicht gefährdet hatten. Einen neuen Untersuchungsausschuss wird es zunächst nicht geben. Nur die Grünen setzen sich im Landtag dafür ein. Der oder die Täter von Wehrhahn sind derweil auch 20 Jahre nach dem Anschlag auf freiem Fuß.

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