Ein rau-zarter Geburtshelfer

In memoriam Stephan Trepte, einem visionären DDR-Rockmusiker

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Wo dieser Sänger auftauchte, überwältigte er umgehend alle mit seinem Formwillen. Sein Gesang war auf kunstvolle Weise ungefällig, sperrig wie eine Mischung aus Moritat und Choral. Eine atemberaubend visionäre Überforderung gewiss - aber für den, der sich darauf einließ, auch eine Reise in unbekannte Regionen seiner selbst. Nach fast einem halben Jahrhundert wirkt »Tritt ein in den Dom« von 1972 immer noch sehr gegenwärtig. Wenn man sich einst an die Gruppe Electra erinnern wird, dann wohl vor allem dieser ekstatisch-verstörenden Stimme wegen.

Stephan Trepte, 1950 bei Kamenz geboren, kam 1972 zu Electra, damals eine der avantgardistischsten Bands der DDR, von der man nicht genau weiß, ob sie sich nun nach der alten griechischen Tragödie oder den neuen elektronischen Klangwelten benannt hatte. Beides steckte in ihrer Musik. Electra nahm sich oft provozierend viel Zeit zur Klangentfaltung - wie andernorts auch Czeslaw Niemen oder Jethro Tull. Man arbeitete an neuen Klangwelten.

»Tritt ein in den Dom« (komponiert von Bernd Aust) ist zweifellos ein mehr als nur musikalisches Manifest. Mehrfach kommt die Aufforderung, »alle verrückten Tage einmal« solle man durch »das herrliche Portal« treten. Man wage den Schritt hin zum Erhabenen, zum Sakralen, das einen anders wieder heraustreten lässt als man eintrat; so wie man nach dem Lesen eines guten Gedichts ein anderer ist als zuvor. Dieser magische Realismus lässt Vergangenheit und Zukunft im gegenwärtigen Augenblick aufeinander prallen. Welch Erschütterung, welch seelisches Erdbeben! Die Aufforderung einzutreten, erreicht den »kleinen Menschen«, mit seinen »staubigen Schuhn«, der in diesem Raum jedoch zu wachsen beginnt, gerade dann, wenn er bereit ist, in ihm »ein paar Minuten zu ruhn.« Hier wird von Kurt Demmler in der Bearbeitung eines Textes von Alexander Block ein Bild vom Menschen gezeichnet, das weder neu noch alt ist, jedoch von einer überwältigenden Verwandlungsintensität.

Dieses Lied, das furios jeden musikalischen und weltanschaulichen Rahmen sprengte, kam sofort nach seinem Entstehen ins Radio, war schon in aller Ohren und Herzen - und verschwand dann ebenso unvermittelt wieder vom Sender, wurde aber live in Konzerten weiter gespielt, was den Nimbus noch vergrößerte. Irgendjemand von den simplen Ideologiewächtern im Lande hatte in der Aufforderung »Tritt ein in den Dom« unerlaubte Propaganda für die Kirche entdeckt. Eintreten sollte man gefälligst in staatliche Kulturhäuser oder in die SED, aber doch nicht in einen Dom! Dabei war dieses Lied nicht mehr und nicht weniger als eine Hymne auf die Größe des einfachen Menschen. Der heilige Raum, so lautet die Botschaft, ist nicht getrennt von dir und deinem profanen Leben. Nimm dir von diesem auch dir gehörenden Reichtum dein Stück und wachse daran! Gewiss, das grenzt an eine säkulare Predigt, aber die DDR-Jugend Mitte der 70er Jahre war ebenso süchtig nach selbst zu entdeckendem Sinn wie sie überdrüssig der falschen »Vorfabrikate« (Volker Braun) war.

Zwei Jahre hielt es Stephan Trepte bei Electra aus, dann zog er weiter zu Lift, ebenfalls ein musikpoetisches Laboratorium ersten Ranges, wo er ebenfalls nur zwei Jahre blieb. Erst 1980 durfte dann »Tritt ein in den Dom« auf der dritten Platte von Electra erscheinen, da war der cherubinische Wandersmann Trepte bereits bei der Magdeburger Gruppe Reform angelangt, die er mit seinem Liedgesang prägte.

Bei Lift sang er »Mein Herz soll ein Wasser sein/ Ein stilles Wasser/ Dass noch der kleinste Stein/ Drin Wellenkreise schlägt«. Das - wiederum nach einem Text von Demmler - war ebenso sein Credo. Den Leidenskern allen Pathos freizulegen und ihm dennoch einen für jedermann verstehbaren Ausdruck zu geben, war die Kunst, nach der Trepte strebte. So auch mit »Soldat vom Don« bei Reform - eine seelische Tiefenbohrung im Bergwerk der Geschichte. So heißt es dort: »Du warst so jung wie wir/ Du hattest gelernt/ Dass Arbeit weniger müde macht/ wenn alle die Früchte genießen .../ Unbekannt ist uns dein Name/ Aber die Sonne kennt deine Spur.« Eine Zeile hat sich mir tief eingeprägt: »Deine Kinder sollten in Häusern wohnen/ Die keine Särge sind, wo man begraben ist.« Man sollte dies nicht nur lesen, sondern auch hören aus dem Munde dieses Sängers, der seine Stimme in höchste Höhen treiben konnte, aber auch dort noch auf jene welthistorischen Brüchigkeiten stieß, die er als wahrhaftiger Chronist der Zeit hörbar machte.

Nun ist Stephan Trepte, dieser rau-zarte Geburtshelfer einer anderen, erst noch zu bestimmenden Art in der Welt zu sein, der im Liebeslied die Tragödie und in der Tragödie auch das Liebeslied hörbar machte, zwei Tage nach seinem 70. Geburtstag, am 22. Juli, in Panketal bei Berlin plötzlich gestorben.

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