Es fehlt heute an intellektueller Kühnheit

»Z« würdigt Friedrich Engels zu dessen bevorstehendem 200. Geburtstag

  • Jens Grandt
  • Lesedauer: 4 Min.

Dass der mit einer recht stabilen Gesundheit ausgestattete Friedrich Engels 200 Jahre nach seiner Geburt unter einer Corona-Pandemie leiden würde - wer hätte das gedacht. Anlässlich des runden Geburtstags hatte seine Geburtsstadt Wuppertal ein vielfältiges Veranstaltungsprogramm zuwege gebracht, das nun weitgehend dem Lockdown zum Opfer gefallen ist. Was aus der Misere folgt, für die Gesellschaft wie für eine linke Politik, dem widmet die jüngste Ausgabe der marxistischen Zeitschrift »Z.« zunächst eine Reihe analytischer Beiträge. Und so kann sich der Leser, damit nicht auch noch der Geist während der Pandemie einfriert, Home-Office-gemäß mit dem Freund und Mitstreiter von Karl Marx und dessen Erbe befassen.

Der Essay von Susanne Schunter-Kleemann verfolgt die Jugendjahre des »Generals«, wie der Kaufmannssohn und 1848er Revolutionär im Freundeskreis liebevoll genannt wurde. Als Pennäler noch ein Gottsucher, befreit er sich aus der pietistischen Drangsalierung der Familie. Der neue Hafen seiner Orientierung ist Bremen, wo er seine kaufmännische Ausbildung fortsetzt, wo er Heinrich Heine, Ludwig Börne, David Friedrich Strauß und nicht zuletzt Ludwig Feuerbach liest. Überhaupt hatte Bremen größeren Einfluss auf die geistige Entwicklung von Engels als Wuppertal. Das sollten die Bremer sich zugute halten. Der junge Mann schreibt seine ersten Artikel, frönt dem Vergnügen und, da wird es pikant, gesteht: »Dass ich einen tief liegenden Hang zur Sünde habe, erkenne ich wohl an.«

Die Hintergründe des Streits zwischen Engels, Wilhelm Liebknecht und Paul Lafargue um die Ausrichtung des internationalen Arbeiterkongresses in Paris von 1889 beleuchten Gerd Callesen und Georg Fülberth. Der Knackpunkt ist einerseits, ob die sogenannten Possibilisten, die eher eine Reformpolitik vertraten, daran teilnehmen sollen oder nicht. Andererseits die Frage, wie mit der extrem nationalistischen Boulanger-Bewegung - Georges Boulanger war ehemaliger Kriegsminister in Frankreich - umgegangen werden soll. Lafargue wollte auf deren Anhänger zugehen und sie nach links ziehen. Engels warnte vor diesem Kurs.

Ein heiß umstrittenes Thema schneidet Thomas Kuczynski an: Ob Produkte, die nicht für den Austausch produziert werden, also keine Ware sind, einen Wert haben. Er durchforstet Engels Werk und findet seine frühe Skepsis gegenüber der unter orthodoxen Marxisten gängigen Definition bestätigt: Engels hatte bereits in seinen »Umrissen zu einer Kritik der Nationalökonomie« (1843) einen »Wertbegriff, der ein anderer ist als der, den Marx im ›Kapital‹ entwickelt hat«. Er unterscheidet zwischen »Realwert« und dem Tausch- oder »Handelswert«, indem er »das Verhältnis der Produktionskosten zur Brauchbarkeit« in Rechnung stellt. Dass ein Unternehmer darüber entscheidet, ob er überhaupt produziert und investiert, hänge davon ab, ob die voraussichtliche Brauchbarkeit (Marx spricht später von Gebrauchswert) die Produktionskosten übersteigt. Das heißt, der erste in Erwägung zu ziehende »Wert« existiert laut Engels unabhängig von allem Austausch. Mit Kuczynskis Vorschlag, den allgemeinen Terminus Wert durch »Arbeitswert« zu ersetzen, wird die Diskussion nicht abgeschlossen sein, aber eine Differenzierung der Begrifflichkeit könnte durchaus erhellend wirken.

Es gibt freilich noch eine Reihe anderer brisanter Artikel in der neuen »Z«, etwa zu Engels’ »Dialektik der Natur«, einen über seinen »Anti-Dühring« mit einer Polemik gegen Thilo Sarrazin, einen anderen über das Geschlechterverhältnis und einen über Engels »Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates« von André Leisewitz und Winfried Schwarz. Herbert Hörz reflektiert in persönlichen Erfahrungen und an aktuellen Fallbeispielen das Verhältnis von Philosophie und Ökologie sowie Lösungsansätze des ökologischen Grundwiderspruchs.

Ein besonderes Juwel unter den nicht dem Engels-Schwerpunkt zugeordneten Beiträgen ist das Interview mit dem marxistischen Philosophen Lucien Sève, der am 23. März 2020 im Alter von 93 Jahren an einer Covid-19-Infektion gestorben ist. Ausgehend von der Einschätzung, dass mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht der »Tod des Kommunismus« einhergegangen ist, wie alle Leitmedien bis zum heutige Tag behaupten, sondern das Ende einer vom Stalinismus geprägten nationalistisch-etatistischen Strategie, die das Gegenteil des Kommunismus im Marxschen Sinne sei, sieht der französischen Philosoph neue Chancen. Die mit der Oktoberrevolution einsetzende Epoche charakterisiert Sève außerordentlich prägnant. Ihr hafte ein »schreckliches Missverständnis« an. Heutzutage treffe der Fortschritt zum Kommunismus einerseits auf historisch reifere Bedingungen als im 20. Jahrhundert und andererseits lasse die Diktatur des Profits, die in einem selbstmörderischen Wahn die ganze Menschheit in den Abgrund zu reißen droht, keine andere Wahl, als den Kapitalismus zu überwinden. Was fehlt, sei »die intellektuelle Kühnheit, die Zeit für den Übergang zum Kommunismus jetzt für gekommen zu halten«. Es bleibt zu hoffen, dass Sèves letztes Buch »Le Communisme?« bald ins Deutsche übersetzt wird.

»Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung«, Nr. 122. 224 S., br., 10 €; Bezug: Postfach 70 03 46, 60553 Frankfurt am Main oder über die E-Mai-Adresse redaktion@zme-net.de

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