Zehntausende gegen Bibi

Israels Premier Benjamin Netanjahu steht im Visier einer neuen, breiten Protestbewegung

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 4 Min.

Sie standen vor der Residenz des israelischen Regierungschefs in einem Mittelklasse-Wohnviertel in West-Jerusalem wie auch vor Benjamin Netanjahus luxuriöser Villa in Caesarea. Am Wochenende demonstrierten mehrere Zehntausend Menschen vor diesen beiden Gebäuden, von denen das eine die streng bewachte Residenz eines Machthabers ist, den man ansonsten nur in den Medien zu sehen bekommt.

In diesen beiden Gebäuden haben sich einige der pikantesten Skandale rund um Netanjahu und seine Familie abgespielt. Seit er 2009 Regierungschef wurde, erfuhr die Öffentlichkeit, wie seine Frau mit ihren Schuhen nach einer Hausangestellten warf, dass sein Sohn Ja‘ir mit nun 29 Jahren immer noch zu Hause wohnt, nicht arbeitet und auf staatlich finanzierten Personenschutz besteht. Im Laufe der Zeit zeichnete sich zudem auch das Bild eines Politikers ab, der oft und gerne Geschenke von reichen Freunden annimmt. Seine Frau sackte zudem Jahre lang Flaschenpfand ein, obwohl die Getränke vom Staat bezahlt wurden. Nun steht Netanjahu wegen Korruption vor Gericht. Im Amt ist er trotz eines Wahlergebnisses von nur 29,46 Prozent; gestützt wird er ausgerechnet von zwei Parteien, die noch im Wahlkampf geschworen hatten, keinesfalls mit ihm zu koalieren. In der Öffentlichkeit ist er nur noch sehr selten zu sehen. Es falle schwer, Leute zu finden, bei denen man sich sicher sein könne, dass sie nicht für unangenehme Szenen sorgen, sagen Mitarbeiter*innen von Netanjahus Likud-Partei.

Dafür steigt die Zahl jener, die trotz der Corona-Pandemie dazu bereit sind, gegen Netanjahu und seine Politik zu demonstrieren. Waren es noch vor wenigen Wochen nur wenige Hundert, die auf die Straße gingen, sind es nun immer wieder Zehntausende. Das Besondere: Es gibt keine Organisator*innen, keine abgestimmten Forderungskataloge, und nur die Wenigsten sind der Linken zuzuordnen. Die Ablehnung der Regierung geht über alle Parteigrenzen hinweg, reicht bis in Netanjahus Likud hinein. Man wirft ihm und seinem Kabinett vor, falsch auf die Pandemie und die mit den Lockdowns einhergehenden sozialen und wirtschaftlichen Nöte reagiert zu haben. Lange Zeit gab es keine staatlichen Hilfen, konzentrierte sich die Regierung stattdessen auf die Annektion von Teilen des israelisch besetzten Westjordanlands - ein Vorgehen, dass selbst bei Rechten und in der Siedler*innenbewegung auf Unverständnis stößt und zu einem in Israel ungewohnten Bild führt: Neben Siedler*innen protestieren auch Linke und Araber*innen, die die Siedlungspolitik grundsätzlich ablehnen. Die Demonstrationen sind, wie schon die Sozialproteste 2012, zu einem leeren Blatt geworden, auf dem alle ihren Frust und ihre Forderungen zum Ausdruck bringen.

Mit dem Unterschied, dass es dieses Mal für Netanjahu politisch gefährlich wird. Denn viele der Stammwähler*innen des Likud sind Selbstständige, die kleine Läden oder Marktstände betreiben. Der Likud ist programmatisch eine Partei, die für Marktliberalisierung und Privatisierung steht, die jetzt keine Antwort auf die Existenzkrise ihrer Wähler*innen hat und sie auch nicht sucht. Stattdessen wenden sich Netanjahu und die Likud-Minister*innen in der Regierung mit ganzer Wucht gegen die Demonstrant*innen. Amir Ohana, Minister für innere Sicherheit, ließ die Polizei vor einigen Wochen Tränengas und Würgegriffe gegen Demonstrant*innen einsetzen; bei den folgenden Demos stieg die Zahl der Teilnehmer*innen rapide an.

Netanjahu selbst bezeichnet die Demonstrant*innen als »linke Anarchisten«, während sein Sohn Ja‘ir in sozialen Netzwerken die Namen und Adressen von Teilnehmer*innen veröffentlicht oder zu Demonstrationen vor deren Häuser auffordert. Mittlerweile wurde ihm das gerichtlich verboten, doch am Wochenende griffen mehrfach Angehörige von »La Familia«, einer Hooligangruppe, die sich Netanjahu wie der in Israel als Terrorgruppe verbotenen Kach-Bewegung fest verschrieben hat, Demonstrant*innen an. Netanjahu und sein Sohn weisen jede Verantwortung dafür zurück. So mancher fühlt sich an das Jahr 1995 erinnert, als der damalige Regierungschef Jitzhak Rabin auf rechten Kundgebungen - Netanjahu war einer ihrer Wortführer - gegen die Osloer Verträge auf Plakaten in Naziuniform zu sehen war, und Netanjahu nichts dagegen unternahm. Rabin wurde am 4. November 1995 von einem jüdischen Attentäter erschossen.

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