Katastrophe mit Ansage

Die Explosion im Hafen von Beirut wurde wahrscheinlich durch Material ausgelöst, das seit 2014 ungesichert im Hafen gelagert wurde

  • Karin Leukefeld
  • Lesedauer: 4 Min.

»Mir fehlen die Worte, um das hier zu beschreiben. Es ist wie Hiroshima.« Die Stimme von Hassan A. klingt leise am Telefon. Am Abend zuvor, am Dienstag, den 4. August gegen 18:00 Uhr Ortszeit, hatte eine gewaltige Explosion Teile des Hafens von Beirut verwüstet. Die Krankenhäuser von Beirut sind zerstört oder komplett überlastet, Verletzte werden in Kliniken im Norden, in die Bekaa-Ebene und nach Süden gebracht. Die Druckwelle der schweren Explosion zerstörte Häuser im Umkreis von bis zu zehn Kilometern. Mehr als 250 000 Menschen haben laut ersten Angaben ihr Zuhause verloren. Staatspräsident Michel Aoun verhängte eine dreitägige Staatstrauer.

Bei Facebook und Twitter berichten unzählige Einwohner der libanesischen Hauptstadt, es sei wie bei einem Erdbeben gewesen. Hamza T., der mit seiner Familie im 80 Kilometer südlich von Beirut gelegenen Tyr lebt, berichtet »nd«, sie hätten die Detonation gespürt. Der Nachrichtensender Euronews mit Sitz im französischen Lyon berichtete, dem deutschen Geoforschungszentrum GFZ in Potsdam zufolge sei die Erschütterung mit einer Stärke von 3,5 auf der Richterskala notiert worden.

»Aber uns geht es allen gut, niemand ist zu Schaden gekommen«, berichtet Hassan A. weiter. »Nur die Fenster auf der Frontseite und die Glastür am Eingang sind zerstört.« Der junge Mann arbeitet in der Rezeption eines Hotels im Beiruter Stadtteil Hamra, das rund sieben Kilometer vom Explosionsort entfernt liegt. Bilder zeigen die zerstörten Straßen, zertrümmerte parkende Autos in der Nachbarschaft. Unzählige Videoclips kursieren aus allen Teilen der Stadt. »Das ist unsere Wohnung«, ist die ungläubige Stimme einer Frau, während sie mit ihrem Mobiltelefon durch die verwüstete Wohnung irrt. Dann richtet sich die Kamera auf den nahe gelegenen Hafen, wo noch immer Rauch aufsteigt. »Mein Gott, warum, warum?« Die Zerstörung und die für alle gut sicht- und spürbare Explosion im Hafen von Beirut haben die Menschen zutiefst erschüttert.

Erst hatte eine Rauchsäule über dem Hafen auf einen Brand unweit des markanten großen Getreidesilos hingewiesen. Funken blitzten auf, viele dachten an Munition oder Feuerwerkskörper, die in Brand geraten waren. Plötzlich aber dehnte sich eine riesige weiße, kugelförmige Wolke aus, aus deren Mitte eine gewaltige Explosion hervorschoss. Dann stieg eine gigantische Rauchsäule in den Himmel. Etwa paar Sekunden später folgte die gewaltige Druckwelle.

Nur wenig später wurden die Libanesen über soziale Medien aufgefordert, in den Häusern zu bleiben und nicht auf die Straßen zu gehen. »Die Art des Feuers deutet darauf hin, dass die Explosion von Salpetersäure ausgelöst wurde. Bitte bleiben sie im Haus«, hieß in einer Botschaft. Salpetersäure bildet in Verbindung mit Ammoniak das Salz Ammoniumnitrat. Diese hochgiftige und durch Hitzeeinwirkung leicht entzündliche Chemikalie wird für die Herstellung von Düngemittel aber auch von Sprengstoff benutzt.

Der Chef des libanesischen Inlandsgeheimdienstes, Abbas Ibrahim, meldete sich kurz darauf zu Wort. Die Explosion sei möglicherweise durch hochexplosives Material ausgelöst worden, das vor Jahren auf einem Schiff beschlagnahmt und im Hafen gelagert worden war. Noch am Abend bestätigte Ministerpräsident Hassan Diab die Äußerungen von Ibrahim. Seit Jahren seien an dem Ort 2750 Tonnen Ammoniumnitrat gelagert gewesen, sagte Diab. Die Verantwortlichen werde man ausfindig machen und sie »den Preis bezahlen«. Recherchen verschiedener Medien zufolge wurde die hochexplosive Ladung im September 2013 von dem Frachtschiff Rhosus von Batumi in Georgien nach Mozambique gebracht. Angeblich habe das Schiff technische Probleme gehabt, der Kapitän bat im Hafen von Beirut um Hilfe. Die Hafenbehörden hätten das Schiff untersucht und es als seeuntauglich beschlagnahmt. Die Reederei sei Bankrott gegangen und habe sich weder um Mannschaft noch Ladung gekümmert. Die gefährliche Fracht wurde 2014 an Land gebracht und ohne Sicherheitsvorkehrungen gelagert. Wiederholt hatte der Zoll das Transportministerium auf die Gefahr aufmerksam gemacht. Geschehen ist nichts. Die politische Verantwortung in dieser Zeit lag bei den Ministerpräsidenten Tamam Salam und dem 2019 zurückgetretenen Saad Hariri.

Nach mehr als sechs Jahren politischer Gleichgültigkeit hat die gewaltige Explosion in nur wenigen Sekunden Beirut und den Libanon in ein Katastrophengebiet verwandelt. Der Hafen der Hauptstadt, der für die importabhängige Wirtschaft des Libanon ebenso lebensnotwendig ist, wie für Syrien, Irak und Jordanien, liegt in Trümmern.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal