Angst ums Zuhause

In Elstal müssen einige Familien mit Kurzarbeitergeld auskommen, sollen aber mehr für die Wohnung zahlen

Die TAG Immobilien AG verfügt über rund 85 000 Wohnungen, die sich in der Bundesrepublik auf Berlin und Brandenburg, den Großraum Hamburg sowie Salzgitter konzentrieren. Doch auch in anderen Bundesländern und in Polen ist das Unternehmen vertreten. Ungefähr 300 Wohnungen befinden sich in Elstal in Havelland unmittelbar neben dem olympischen Dorf von 1936 am Radelandberg und in den Querstraßen. In dieser Siedlung geht nun die Angst um, weil einigen Bewohnern die Erhöhung ihrer Mieten angekündigt wurde.

Dabei hörte sich ausgesprochen gut an, was TAG-Vorstand Claudia Hoyer Mitte Mai angesichts der Coronakrise verkündet hatte: Man wolle den Mietern »in dieser schwierigen Zeit ein gesichertes Zuhause« bieten und verzichte bereits seit mehreren Wochen freiwillig auf Mieterhöhungen, Kündigungen und Räumungen. »Die Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum war schon immer unser Kerngeschäft«, versicherte Hoyer. Soziales Engagement sei wichtiger denn je.

Die TAG Immobilien AG in Zahlen

Mit Stand vom 31. März 2020 gehörten zum Portfolio der TAG Immobilien AG 84 890 Einheiten mit einer Fläche von zusammen 5,1 Millionen Quadratmetern. Ein kleiner Teil der Einheiten (1147) sind dem Gewerbe vorbehalten, zumeist handelt es sich um Wohnungen. Zum Bestand gehören Wohnungen in Strausberg, Eberswalde und Brandenburg/Havel.

Der Wert der Immobilien belief sich auf 5,5 Milliarden Euro, von denen 137 Millionen Euro auf Immobilien in Polen entfallen. Dorthin hatte sich das Unternehmen mit einer 125-jährigen Tradition zu Beginn des Jahres durch eine Beteiligung ausgedehnt.

Der Leerstand im Wohnungsbestand beläuft sich auf 4,9 Prozent. In der Hauptstadtregion liegt der Leerstand bei lediglich 4,2 Prozent. Die durchschnittliche Nettokaltmiete liegt mit 5,77 Euro pro Quadratmeter etwas über dem Mittelwert der TAG-Wohnungen (5,42 Euro). Bei einer Neuvermietung verlangt die TAG in der Hauptstadtregion im Schnitt vergleichsweise moderate 6,22 Euro je Quadratmeter. af

Aber gilt das bereits zwei Monate später schon nicht mehr? Trotz Pandemie die Mieten zu erhöhen »ist moralisch verwerflich und zeugt von wenig Sozialkompetenz«, findet Kommunalpolitiker Tobias Bank (Linke). Er ist Vorsitzender des Parlaments der Gemeinde Wustermark, zu der Elstal als Ortsteil gehört. Einige Betroffene haben mit Kurzarbeit zu kämpfen und erhalten derzeit nur 60 Prozent ihres üblichen Einkommens oder wissen nicht, ob sie im Herbst überhaupt noch einen Job haben, berichtet er. »In solch einer Zeit nur an den eigenen Profit zu denken ist sozialer Sprengstoff.«

Tobias Bank schrieb Claudia Hoyer und ihren Vorstandskollegen einen Brief in die Konzernzentrale nach Hamburg und schilderte die Zwangslage der Mieter. Er bat dringend darum, die Mieterhöhungen zurückzunehmen und alle sonst noch geplanten Mieterhöhungen bis mindestens Ende des Jahres auszusetzen. Eine Antwort habe er bis jetzt nicht erhalten, sagt der Kommunalpolitiker. Er war nach eigener Auskunft erschrocken und überrascht vom Vorgehen der TAG. Zwar gab es in Elstal in der Vergangenheit immer wieder Probleme mit Wohnungsunternehmen. Da sei es jedoch um die Eigentümer Deutsche Wohnen und Vonovia gegangen. Mit der TAG Immobilien AG habe man bislang keinerlei negative Erfahrungen gemacht, betont Bank.

Die TAG verlangt nach eigenen Angaben für ihre Quartiere im Schnitt 5,42 Euro Nettokaltmiete pro Quadratmeter. Bei Neuvermietungen sind es demnach 5,70 Euro. Etwa 6,50 Euro pro Quadratmeter zahlen gegenwärtig einzelne Mieter am Radelandberg für ihre zwischen 65 und 130 Quadratmeter großen Wohnungen. Für die Verhältnisse des Berliner Speckgürtels sind dies keineswegs Wucherpreise, sondern noch recht moderate Werte, bestätigt Tobias Bank bereitwillig. Die ihm bekannten Mieterhöhungen bewegen sich auch im gesetzlich zulässigen Rahmen und liegen teils sogar darunter. Familien, denen durch Kurzarbeit 40 Prozent ihres Einkommens wegbreche, treffe es dennoch schmerzhaft. Sie seien verzweifelt und wüssten nicht, wie sie ihre Miete künftig bezahlen und die Wohnung halten können.

Just in dieser Situation verschiebt sich in Brandenburg offenbar die verheißene Anhebung des Vergabemindestlohns. Wenigstens 10,68 Euro die Stunde müssen Unternehmen ihren Beschäftigten aktuell bezahlen, wenn sie öffentliche Aufträge vom Land oder von den Kommunen ergattern wollen. Die unabhängige brandenburgische Mindestlohnkommission hatte der rot-schwarz-grünen Koalition im Juni empfohlen, diese Lohnuntergrenze auf 13 Euro anzuheben. Doch mit ziemlicher Sicherheit wird zum 1. Januar 2021 noch nichts daraus. Eigentlich sollte das Wirtschaftsministerium dem Landtag im dritten Quartal 2020 den notwendigen Gesetzentwurf vorlegen. Durch die Coronakrise sei es zu einer »kleinen Verzögerung« gekommen, erläuterte auf nd-Anfrage am Donnerstag das Ressort von Minister Jörg Steinbach (SPD). Es werde erst im vierten Quartal gelingen. Für einen höheren Mindestlohn ab 1. Januar reicht dies nicht aus. Die Verzögerung beläuft sich auf voraussichtlich drei Monate.

Die Erhöhung sei aber angesichts der Coronakrise dringend notwendig, »denn das Geld fehlt mehr denn je in vielen Haushalten mit geringem Einkommen«, kritisiert Brandenburgs Linksfraktionschef Sebastian Walter. »Eine Verschiebung mit den Belastungen im Ministerium rechtfertigen zu wollen, ist ein schlechter Witz. Viele Menschen müssen trotz Corona mit Mehrbelastungen klarkommen und können sich nicht rausreden.« Erst ab 13 Euro Lohn pro Stunde sichere die Existenz und sorge dafür, dass der Beschäftigte im Alter mit seiner Rente auskomme. Die Linke werde einen eigenen Gesetzentwurf für die Erhöhung des Vergabemindestlohns vorlegen, kündigt Walter an. »Wir fordern die Koalitionsfraktionen dazu auf, zu ihrem Wort zu stehen«, sagt er.

Der Linke-Vizelandesvorsitzende Martin Günther ergänzt: »Mehr als 400 000 Brandenburger bekommen weniger als 13 Euro in der Stunde. Das sind mehr als 40 Prozent der Beschäftigten. Sie haben endlich einen vernünftigen Mindestlohn verdient. Ausflüchte gelten nicht! Die Landesregierung muss den Vergabemindestlohn jetzt auf 13 Euro erhöhen.« Die Verschiebung der Mindestlohnerhöhung sei nicht nur sozial ungerecht, sondern volkswirtschaftlich schädlich.

Derweil ist das Schreiben von Gemeindevertreter Bank in der Firmenzentrale der TAG in Hamburg bislang noch gar nicht eingegangen, bedauert Sprecherin Grit Zobel. »Wir übernehmen, wie bisher auch, Verantwortung für unsere Mieter und führen Mietanpassungen nur nach vorabgestimmten Prüfungskriterien durch«, versichert sie. »In Elstal haben wir daraufhin für fünf Wohnungen eine Mieterhöhung zum 1. Oktober 2020 versendet.« Die Mieter dürften sich mit Fragen an ihre persönlichen Kundenbetreuer wenden und dabei erhöhte Belastungen anzeigen. »Härtefällen kann so geholfen werden. Kein Mieter verliert bei uns sein Zuhause, wenn wir von seinen Schwierigkeiten wissen«, sagt Zobel Die Kundenbetreuer würden im Gespräch nach Lösungen suchen. Bisher sei wegen der angesprochenen Erhöhungen noch kein Mieter an die TAG herangetreten.

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