Ein kaputter Diskurs

Gerhard Hanloser über Antisemitismusvorwürfe und Arbeit am Begriff

  • Gerhard Hanloser
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Beschäftigung mit Antisemitismus und seiner Kritik war lange Zeit eine Disziplin, kombiniert und unterfüttert mit gesellschaftstheoretischen und -kritischen Elementen. Wer sich publizistisch zu diesem Thema äußerte, musste vor allem eines leisten: Arbeit am Begriff. Davon kann im heutigen Streit um Antisemitismus keine Rede mehr sein. Anstelle einer disziplinierten begrifflichen Arbeit prägen Moralisierung und instrumentelle Politisierung die Diskussion.

Auf moralischen Mehrwert kann in Deutschland - dem Land der Mörder von Millionen Juden, in dem sich der europäische Antisemitismus völkisch-rassistisch auflud und zum Vernichtungsantisemitismus radikalisierte - jeder Diskursteilnehmer hoffen, der einen anderen als »Antisemiten« markiert. Derjenige, den dieser Vorwurf trifft, hat weit weniger gute Karten. Die Existenz dieses moralischen Gefälles ist der Hauptgrund, warum häufig auch haltlosen Behauptungen, dieser oder jener sei ein Prototyp des »israelbezogenen Antisemitismus«, Glauben geschenkt wird.

Der Theoretiker Achille Mbembe, wohlgemerkt: kein Deutscher, hat in seiner postkolonialen Kritik am globalen Kapitalismus mit keinem Wort eine Herabsetzung von Juden betrieben. Wer mit der philosophischen Anlage seiner Arbeiten vertraut ist, würde eher eine Wahlverwandtschaft zu jüdisch-universalistischem Humanismus erblicken können. Einzig: Er ist ein Gegner der Okkupationspraxis Israels. Von einem FDP-Politiker als untragbar eingestuft, daraufhin vom Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, als Antisemit ausgemacht, sollte er in der Folge auch in einigen Feuilletonbeiträgen überregionaler Zeitungen als solcher markiert bleiben; zuweilen wurde gar die gesamte postkoloniale Kritiktradition als antijüdisch ausgewiesen.

Hier wird deutlich, dass die Moralisierung direkt mit politischen Manövern verschränkt ist und ein strategisches Element in einem banalen politischen Streit darstellt, der als das benannt werden sollte, was er ist: ein Streit zwischen mehrheitlich linken und mehrheitlich rechten Positionen, zwischen jenen, die Herrschaft und Unterdrückung universell anklagen und jenen, die Israel vor derart gelagerten Kritiken in Schutz nehmen wollen.

Zuletzt wurde der Historiker und Mitbegründer des »Deutsch-israelischen Arbeitskreises für Frieden im Nahen Osten« Reiner Bernstein, der sich bis vor kurzem für eine Zweistaatenlösung im Israel-Palästina Konflikts einsetzte, seitens des israelische Regierungsberaters und polemischen Autors Arye Sharuz Shalicar als »Alibijude« und »Judenhasser« etikettiert. Diese Beleidigung sah das Berliner Kammergericht nach einer von Bernstein angestrebten Verleumdungsklage als durch die Meinungsfreiheit gedeckt.

In diese entgrenzte Diskursschlacht, in der moralische Herabsetzungen zum üblichen Geschäft gehören und schwer zu übersehende politische Interessen zum Tragen kommen, müsste schleunigst Ordnung gebracht werden: Durch Arbeit am Begriff, Selbstbeherrschung, Selbstkritik und eine an Habermas geschulte Überprüfung der normativen »Richtigkeit« und expressiven »Wahrhaftigkeit« des Gesagten.

Mit dem Politologen Samuel Salzborn hat Berlin nun einen eigenen Beauftragten für Antisemitismus. Der Justizsenator Dirk Behrendt (Die Grünen) erklärte es zu einem mutigen und spannenden Entschluss, dem zweifelsfrei kundigen Wissenschaftler diese Aufgabe zu überantworten. Mit ihm, so steht allerdings zu befürchten, wird nicht viel von der nötigen Klarheit hinsichtlich des Antisemitismusbegriffes umgesetzt. Auf dem Weg seiner Wissenschaftskarriere hat sich der nun 43-jährige Salzborn 2011 zusammen mit dem Politikwissenschaftler Sebastian Voigt als Ankläger eines vorgeblichen Antisemitismus in der Linkspartei profiliert.

In der Anklageschrift, die vorgab, sich im Rahmen einer »kritischen Extremismusforschung« zu bewegen, wollten die beiden Autoren vor allem einen begrifflich vage gebliebenen »linken Antisemitismus« in der Partei skandalisieren. Doch den Nachweis sind Salzborn und Voigt schuldig geblieben. Zudem unterzeichnete Salzborn Ende Juli die Solidaritätserklärung mit Felix Klein. Die Unterzeichner halten dort fest, dass »wer heute fordert, keine israelischen Waren zu kaufen, … geistiger Erbe von ›Kauft nicht bei Juden!‹ der SA« sei.

Den Antisemitismus erklären die Unterzeichner »zur kulturellen DNA Europas«, der im Stande sei, »sich wie ein Chamäleon den gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen«. Damit wird eine Form zivilgesellschaftlichen Aktivismus’ mit der Gewaltpraxis der Nazis parallelisiert. Auch die Metapher vom Chamäleon ist selbstentlarvend, denn ein Chamäleon trachtet danach, in ein Unschärfeverhältnis zu seiner Umgebung zu treten. So gewollt unscharf ist aber weniger der Antisemitismus selbst als der Antisemitismusbegriff der Unterzeichner.

Wenn nun angekündigt wird, Salzborn wolle die unterschiedlichen Facetten des Antisemitismus’ stärker in den Blick nehmen, so verheißt dies angesichts seiner unscharfen Definition und seines beständig nach links gerichteten Blicks nichts Gutes. Dass Salzborn nach dem rechtsradikal motivierten Anschlag in Halle in der »taz« Ende 2019 zuerst auf »den Antisemitismus in den ... linken Kontexten, der sich zumeist gegen Israel wendet« verwies, ist bezeichnend. 2018 sah er in einer Veröffentlichung den mehrdimensionalen Konflikt im Nahen Osten um Israel und die Palästinenser und die sie begleitenden Feindbilder als einen Konflikt, der einzig auf der Dichotomie von Juden und Judenhassern beruhe.

Als »die einzige Demokratie im Nahen Osten« verkörpere Israel die »liberale und aufgeklärte Welt« und die »Komplexität der Moderne« und ziehe daher weltweit den Hass der Antisemiten auf sich. Mit dieser politisch interessierten Setzung, die die Realität von Okkupation, Annexion und Entrechtung, die von Israel ausgeht, schlicht ignoriert, dürfte klar sein, was dem Berliner Beauftragten für Antisemitismus als solcher erscheint: vor allem Kritik an Israel, die von links kommt.

Es ist diese Mischung aus Moralisierung und politischem Interesse, die bei den mit politischer Deutungs- und Handlungsmacht ausgestatteten Akteuren Klein und Salzborn so stark wirkt. Spannend und mutig ist an der Ernennung Salzborns zum Antisemitismusbeauftragten nichts, sie ist verheerend - für eine Rückkehr zu einem redlichen Ringen um einen adäquaten Antisemitismusbegriff, in dessen Zentrum die Abneigung oder Feindschaft gegenüber Juden steht, wie für den Kampf gegen den Antisemitismus selbst. Für jene, die sich für die Rechte der Palästinenser einsetzen, ist es vor allem eine Bedrohung.

Gerhard Hanloser ist Herausgeber des jüngst beim Mandelbaum-Verlag erschienenen Buches »Linker Antisemitismus?«, 304 S., 22 €.

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