Der Staat soll helfen

Die global produzierende Pharmabranche findet in der Corona-Pandemie weitere Möglichkeiten zur Profitmaximierung - Patienten in Europa wird das zuletzt treffen

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 6 Min.

Um Kosten zu sparen, hat auch die Pharmaindustrie Produktionsschritte ins billigere Ausland verlagert. Die Coronapandemie hat allerdings gezeigt, dass dies auch die Versorgung mit Medikamenten gefährden kann - zum Beispiel als Indien kurzzeitig ein Exportstopp für verschiedene Wirkstoffe erließ. Die Pharmaindustrie plädiert daher für die Rückverlagerung von Lieferketten und Produktion nach Europa. Das will sie sich aber auch bezahlen lassen.

Lieferengpässe bei medizinisch notwendigen Produkten, vor allem bei Arzneimitteln, gab es schon vor Beginn der Corona-Pandemie. Zum Beispiel bei Schilddrüsenhormonen, Mitteln für die Krebsbehandlung oder die Anästhesie, immer wieder auch bei Medikamenten mit Ibuprofen. Auf einer entsprechenden Liste des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte stehen aktuell 331 Humanarzneimittel. Nur fallen diese Defizite allgemein wenig auf: Das Thema wurde meist intern abgehandelt, zwischen Apothekern, dem Großhandel und verschreibenden Ärzten, ambulant und in Kliniken. Vereinzelt bekamen chronisch Kranke nicht immer die am besten verträgliche Variante ihres Medikaments.

Nicht alle zugelassenen Arzneimittel sind in Deutschland immer verfügbar - das hat nicht nur mit Schwierigkeiten in der Produktion in Indien oder China zu tun oder mit der Konzentration auf wenige Produktionsstandorte weltweit. Auch die Rabattverträge der Krankenkassen, ausgeschrieben mit dem Ziel, Versichertenbeiträge zu sparen, führen mitunter dazu, dass Medikamente nur noch eines Herstellers für die jeweils Versicherten abgegeben werden. Wer dann partout das gewohnte Mittel haben will, muss dafür mehr zahlen - wenn es noch am Markt ist.

Auch das Auslaufen von Patentschutz kann bewirken, dass für Pillen seitens der Kassen nur noch ein geringerer Preis gezahlt wird. Eine Reaktion darauf kann sein, dass der Preis für den Endkunden massiv steigt - und der Absatz einbricht, das Medikament sogar vom Markt verschwindet. Das kann zum Beispiel verhindert werden, wenn dieses Medikament als Generikum hergestellt wird, also als wirkstoffgleiches, billigeres Nachahmerprodukt.

Schon diese wenigen Abläufe zeigen, dass bei Pharmaprodukten der Preis eine äußerst wichtige Rolle spielt. In Deutschland sind aktuell fast 50 000 verschreibungspflichtige Medikamente zugelassen. Die Gesetzliche Krankenversicherung, die für den Großteil der Bevölkerung die Versorgung sichert, sorgt dafür, dass Pharmaprodukte massenhaft und nach überschaubaren Regeln abgenommen und bezahlt werden. Die Branche verfügt damit über eine Abnahmegarantie - für Produkte aktuell im Wert von 40 Milliarden Euro pro Jahr.

Der Herstellungsprozess von Medikamenten wiederum ist mehrstufig. Am Anfang steht die Wirkstoffproduktion, die aktuell häufig in Asien stattfindet. In einem nächsten Schritt werden daraus gebrauchsfertige Formen hergestellt: Tabletten, Flüssigkeiten und Salben. Diese müssen anschließend in eine sogenannte Primärverpackung, also in die Durchdrückpackungen aus Aluminiumfolie und Kunststoff (Blister), in Flaschen oder Tuben. Zum Schluss folgt die Endverpackung, eine Faltschachtel und die Qualitätsprüfung. Jeder einzelne Schritt kann an einem anderen Standort erledigt werden. Die Auslagerung von Produktionsschritten wird von der Pharmaindustrie mit dem hohen Kostendruck, vor allem auf generische Arzneimittel, erklärt.

Im Zusammenhang mit Lieferengpässen haben die Hersteller und ihre Verbände immer wieder auf die Vorteile einer Rückkehr zu einer rein deutschen oder europäischen Produktion verwiesen. Die Prozesse wären schneller und könnten lückenlos kontrolliert werden. Auf Bedarfsschwankungen wäre flexibler zu reagieren, die Abhängigkeit von ausländischen Lohnherstellern würde reduziert. Transportwege und Lieferzeiten fielen weg, eigenes Know-how ließe sich besser schützen. Auf Unabhängigkeit im Epidemiefall wurde in einem Papier des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie vom Februar ebenfalls verwiesen. In diesem Dokument wird auch das Problem thematisiert, dass asiatische Anbieter ebenfalls hohe Qualitätsstandards gewährleisten müssen und diese dann Preise vorgeben könnten. Ein Wechsel zu einem alternativen Hersteller sei teuer und komplex, weil dieser in das Zulassungsverfahren einzuschließen ist.

Letzteres lässt sich gut am Beispiel der potenziell krebserregenden Nitrosamine nachvollziehen. Seit Sommer 2018 verunreinigen diese verschiedene Wirkstoffe, zuerst wurde das bei den Blutdrucksenkern, den Sartanen, festgestellt. Anfangs ging man davon aus, dass die Umstellung eines Produktionsprozesses in China zu der Verunreinigung geführt hatte. Es folgte eine lange Rückrufwelle von Sartanen. Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) legte im Juli nun ein Gutachten vor, in dem Hersteller aufgefordert wurden, bestimmte Grenzwerte nicht zu überschreiten. Dazu sind nun regelmäßig Tests nötig. Das Herstellungsverfahren sollte schon zuvor - in allen Teilen, von Anfang an - überprüft werden. Inzwischen sind aber weitere Medikamente von den Verunreinigungen betroffen, unter anderem das Diabetesmittel Metformin. Bislang sei das noch nicht besorgniserregend, allerdings wurden die Vermutungen über die Ursachen ausgeweitet. Neuerdings kommen erhöhte Lagertemperaturen bis zu 70 Grad Celsius dazu.

Geflissentlich unerwähnt bleiben bei der Diskussion der Globalisierungsvorteile die Produktionsbedingungen etwa in Indien und China. Die Lohnkosten sind deutlich niedriger als in Europa, Umwelt- und Arbeitsschutz sowie Rechte der Beschäftigten spielen keine große Rolle. Und Big Pharma sorgt auch dafür, dass diese Zustände so bleiben, wie ein Beispiel aus Indien zeigt. Dort hatte die Regierung im Januar einen Gesetzentwurf vorgelegt, der erstmals Grenzwerte für Antibiotika festlegt, die in Flüsse und die umliegende Umwelt eingeleitet werden dürfen. Der indische Arzneimittelhersteller-Verband IDMA versuchte, die Regelungen zu verhindern und eine große Zahl von Fabriken von möglichen Vorschriften auszunehmen. Die IDMA argumentierte gegenüber dem zuständigen Ministerium damit, dass die Corona-Pandemie dem indischen Pharmasektor enorme Geschäftsmöglichkeiten eröffne - die offensichtlich nicht durch zusätzliche Regulierungen in Frage gestellt werden sollten.

Die Coronapandemie hat die Arzneimittel-Lieferkette nun ebenfalls gestört, schließlich werden in den vom Virus besonders betroffenen Gebieten in China etwa 60 verschiedenen Wirkstoffe für den Weltmarkt hergestellt, darunter Antibiotika, Schmerzmittel, Statine zur Senkung der Blutfettwerte, Cortisone und Mittel gegen Bluthochdruck. Auch indische Produzenten beziehen einen großen Teil der verwendeten Rohstoffe wiederum aus China. Zwischenzeitlich erließ Indien ein Exportverbot für 13 Wirkstoffe, um zunächst die eigene Versorgung zu sichern.

Dennoch hielten sich die Auswirkungen auf die Medikamentenversorgung zumindest in der EU bislang im Rahmen. Das ist jedoch nicht überall und für jede Medikamentengruppe der Fall. So zeigte eine aktuelle Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO, dass 73 Nationen weltweit Gefahr laufen, ihren HIV-Infizierten nicht ausreichend antiretrovirale Medikamente zur Verfügung stellen zu können. Mit diesen Mitteln kann der Ausbruch von Aids beträchtlich verzögert werden. 24 Staaten mit 8,3 Millionen betroffenen Menschen meldeten bereits »kritisch geringe Bestände«. Als Grund für den Mangel wurden Störungen im Produktionsablauf aufgrund der Pandemie genannt.

Wenn die Pharmaindustrie nun die Rückverlagerung von Produktionsschritten nach Europa begrüßt, wie von der Bundesregierung und auf europäischer Ebene vorgeschlagen, will sie sich das auch bezahlen lassen. Unter anderem möchte sie eine Förderung für den Wiederaufbau der Wirkstoffherstellung und die Ausschreibungsregeln für Rabattverträge lockern. So sollten Wirkstoffe oder Arzneimittel, die in den letzten zwei Jahren Versorgungsdefizite aufwiesen, nicht mehr ausgeschrieben werden - das hieße auch, dass für die Krankenkassen keine Preisersparnis auf diesem Weg mehr möglich wäre. Mehrausgaben für die Kassen seien zusätzlich absehbar - wegen des höherem bürokratischen Aufwands und der höheren Herstellungskosten.

Letztlich bietet die Pandemie für die Pharmahersteller nicht nur die Chance, Zusatzprofite durch derzeit besonders nachgefragte Medikamente zu machen oder sich Innovationen noch besser als sonst vergüten zu lassen. Auch die Umgestaltung der globalisierten Produktion könnte zu einem weiteren Surplus führen.

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