nd-aktuell.de / 15.08.2020 / Berlin / Seite 25

Ein Brand, der nie gelöscht wird

Bewohner eines einsturzgefährdeten Neuköllner Hauses kehren zurück.

Anna Kücking

Die Bewohner*innen der Neuköllner Jahnstraße 2 sind zurück in ihrem Haus. »Am Samstag konnten wir wieder in die Wohnung. Heute war die Hausverwaltung da, aber die haben uns wieder nicht gesagt, wie es weitergeht. Wir wollen jetzt eine neue Wohnung finden«, sagt Mohammed Eliraqui am Donnerstag. Dem Bezirksamt zufolge ist das Haus wieder bewohnbar.

Wochen der Ungewissheit liegen hinter den Mieter*innen. Die Erinnerung an die Nacht von Sonntag auf Montag, den 13. Juli, ängstigt sie noch immer. Dabei war es eine Nacht wie jede andere in Neukölln: unruhig und laut, im Haus polterte es, vor dem Fenster Stimmfetzen. Vermutlich Jugendliche oder Junkies, denkt die 19-jährige Linda Barbiche. Zwei Stockwerke über ihr wird das Gesicht des 21-jährigen Mohammed Eliraqui vom Display seines Handys beschienen - er schaut eine Serie. Sein Bruder Ahmed im Bett neben ihm hat die Augen geschlossen.

Im angrenzenden Haus an der Buschkrugallee, durch einen gemeinsamen Hinterhof mit dem an der Jahnstraße verbunden, wird die 17-jährige Abiturientin Malak Mahmoud in diesem Moment von ihrem Vater aus dem Schlaf gerissen. »Schnell, raus hier!«, sagt er. Im Wohnzimmer beißende Luft, und als die Familie das Treppenhaus herunterläuft, quillt ihnen bereits dunkler Rauch entgegen. Auch Linda Barbiche hat bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Sie schaut aus dem Fenster in den Hinterhof, sieht das Feuer in der offenen Garage des Gebäudekomplexes und denkt: »Nicht schon wieder.« Gerade ein halbes Jahr ist es her, dass es an der frei zugänglichen Stromversorgung des Hauses gebrannt hat.

Laut Polizeiangaben sind in der Nacht vom 12. auf den 13. Juli acht Autos und zwei Mopeds in Flammen aufgegangen. Sechs Mieter wurden wegen Rauchgasverletzungen von Sanitätern behandelt.

Nun brennt es in den letzten Monaten immer wieder in Neukölln. Schon seit Jahren gibt es eine Serie von rechten Brandanschlägen im Bezirk. Neben Schmauchspuren auf dem Asphalt hinterlässt sie auch die Frage, wie sicher sich migrantische und jüdische Familien heute in Deutschland fühlen können. Ob es sich in jener Julinacht um einen rechten Brandanschlag gehandelt hat, weiß man nicht. Mohammed Eliraqui vermutet es. Linda Barbiche ist anderer Meinung - sie denkt, es gehe um Rache an bestimmten Personen im Haus, Drogen seien da im Spiel. Die Polizei hat einen mutmaßlichen Täter festgenommen. Weder über das Motiv noch über den Täter gibt es Informationen. Das Ermittlungsverfahren läuft.

Ahmed Eliraqui ist ein freundlicher Mann. Der 26-jährige Krankenpfleger trägt ein rosa Hemd, sein Haar ist zu einem Dutt gebunden. Nach dem ersten Feuer am 27. Dezember 2019 wendet er sich an das Bezirksamt Neukölln und fordert eine Überwachung des Gebäudes. Ohne Erfolg. Die Hausverwaltung Universa, die er zu dieser Zeit schon wegen unsachgemäßer Instandsetzungsmaßnahmen an einem defekten Heizungsrohr durch Anwälte kontaktieren ließ, ist nicht erreichbar. Nach dem Brand Ende Dezember ist die Wohnung mit Ruß überzogen, die Familie muss zudem zwei Monate ohne Heizung leben. Mitten im Winter. Ahmeds Vater beginnt zu husten, liegt kurz darauf mit einer Lungenentzündung zwei Wochen im Krankenhaus.

Wer weiß, was gewesen wäre, wenn die Hausverwaltung nach dem ersten Brand Rauchmelder angebracht hätte. Vielleicht hätten die Bewohner*innen dann am 13. Juli nicht nachts auf der Straße stehen müssen, während die Feuerwehr über Stunden den Brand löschte. Vielleicht wären sie nicht in ihre Wohnungen zurückgegangen, um den Ruß wegzuwischen. In der folgenden Woche ist die Angst, dass es wieder passiert, so belastend wie das Wissen um die Schäden. Ein Polizist meint noch in der Nacht zu Mohammed Eliraqui, das Haus könnte einsturzgefährdet sein. Der erzählt es am nächsten Tag seinem Vater, dieser glaubt ihm nicht.

Gegen Mittag des 17. Juli, vier Tage nach dem Brand, geht im Büro des Bezirksstadtrates für Stadtentwicklung, Jochen Biedermann (Grüne), eine Mail ein. Statiker der Hausverwaltung befinden das Haus für einsturzgefährdet. Mitarbeiter von Biedermann machen sich mit weiteren Gutachtern auf den Weg zum Gebäude. Malak Mahmoud ist an diesem Freitag zu Hause, sie sieht die Bezirksbeamten und einen Mannschaftswagen der Polizei, denkt aber nicht weiter darüber nach. Polizeifahrzeuge ist sie gewohnt, vielleicht beginnen die Ermittlungen, denkt sie.

Aber Informationen bleiben an diesem Tag auf der Strecke. Sie fließen lediglich zwischen Bezirksamt und Hausverwaltung, die Betroffenen werden nicht informiert. Wenn sie die Telefonnummer der Hausverwaltung wählen, klingelt es zwar. Nur hebt am anderen Ende der Leitung niemand ab. Was man über die Hausverwaltung Universa erfahren kann, kommt aus dem Netz. Das Gebäude gehört demnach überwiegend einem geschlossenen Immobilienfonds, als Geschäftsführer fungiert Dirk Nickel. Es gibt eine Verbindung zur Trigon-Gruppe, von der mehrere Investmentgruppen abzweigen, mit Bilanzen im sechsstelligen Bereich; diese sitzt im gleichen Gebäude wie die Universa. Ein Besuch vor Ort bleibt ergebnislos - Nickel ist nicht da.

Die Gutachter des Bezirksamts kommen am Nachmittag des 17. Juli zum gleichen Schluss wie die Statiker der Hausverwaltung. Die sofortige Evakuierung übernimmt dann die Polizei. Den Familien, die zu dieser Zeit zu Hause sind, bleiben wenige Minuten, um ihre Sachen zusammenzupacken. Abwesende Familienmitglieder, die nicht sofort ans Telefon gehen, haben Pech gehabt. Niemand weiß zu diesem Zeitpunkt, ob die Wohnungen wieder bewohnbar sein werden. Die Familien werden in ein nahe gelegenes Hotel gebracht - und am nächsten Tag wieder von der Polizei herausgeholt: Mehr als eine Nacht kann das Bezirksamt nicht zahlen. Die Mieter*innen sind auf sich allein gestellt. Sie organisieren sich Zimmer in einem Hostel.

Seither kreisen die Gedanken immer wieder um dieselben Fragen: Warum wurden sie in die Wohnungen zurückgelassen, wenn schon ein Polizist in der Nacht des Brandes vermutete, dass das Haus einsturzgefährdet sein könnte? Warum tragen diejenigen, die nicht beim Jobcenter gemeldet sind, die Kosten der Ersatzunterkünfte selbst - über 900 Euro pro Woche? Laut Mieterschutzbund ist der Vermieter bei Brandstiftung in der Pflicht, Ersatzwohnraum bereitzustellen. Ein Sprecher von Jochen Biedermann sagt, so eindeutig sei die Rechtslage nicht.

Drei Wochen darauf sitzen Mohammed Eliraqui, Linda Barbiche und Malak Mahmoud an dunkelgrauen Plastiktischen eines Hostels an der Saalestraße. Der Gitterzaun der asphaltierten Terrasse ist mit Sichtschutz verhängt, oberhalb davon rauschen S-Bahnen vorbei. »Ich komme vom Treffen mit dem Bürgermeister«, sagt Linda Barbiche, fummelt an ihrem Handy herum und legt dann beide Arme auf den Tisch. In den nächsten Tagen, so das Ergebnis des Treffens mit Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD), dürften sie kurz in die Wohnungen zurück, um Sachen zu holen.

Zwei Tage später stehen ein paar Familien vor ihrem Haus an der Jahnstraße. Die Sonne glüht. Eine ältere Dame schlängelt sich mit ihrem Rollator durch eine Gruppe von vier Mädchen. »Achtung«, sagt Ahmed Eliraqui, »die überfährt euch noch mit ihrem Ferrari.« Die Dame dreht sich um und entgegnet: »Das ist ein Porsche.« Ein Polizeiwagen fährt vor. Beamte begleiten die Familien ins Haus. In der Wohnung reißen Eliraquis Schwestern alle Schränke auf, packen Schulmappen, Hausaufgabenhefte, Stifte. Eine rennt auf den Balkon, begrüßt ihren roten Kaktus. In der Wohnung selbst klafft in der Decke nach wie vor die lediglich verspachtelte Narbe vom Heizungsrohrbruch im vergangenen Jahr.