Jenseits der Fahrradkette

Zweimal war »R2G« in der Mehrheit. Was hätte daraus werden können?

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 4 Min.

Peer Steinbrück - in der langen Reihe gescheiterter SPD-Kanzlerkandidaten fast vergessen - hat eine kulturgeschichtliche Fußnote hinterlassen: den Halbsatz »hätte, hätte, Fahrradkette«. Die volkstümliche Absage an das Denken im Konjunktiv Plusquamperfekt kam gut an im Hauptstadtjournalismus, der sich für das Volk hält: Politik ist Machen statt Hadern. Wunschdenken ist kindisch, zumal im Nachhinein. Also immer schön »nach vorne schauen«! In der Politik liegt dieses Mantra nahe, zumal bei Misserfolgen: Es umschifft jede »Fehlerdiskussion«, indem es Alternativen noch nachträglich versteckt.

Und genau deswegen ist jenes Hadern interessant. Was wäre etwa möglich gewesen, wenn die beiden Legislaturperioden, in denen SPD, Grüne und PDS/Linkspartei die Bundestagsmehrheit hatten, genutzt worden wären - und wie hätte es dazu kommen können? Es gab einen Moment am 18. September 2005, als dieses Fenster offen schien: als der merkwürdig euphorisierte Gerhard Schröder in der »Elefantenrunde« eine konsternierte Angela Merkel anpaulte, sie würde niemals »Kanzler« werden.

Denn rechnerisch bestand die Möglichkeit: »R2G« hatte 51 Prozent. Politisch war’s natürlich schwierig, zumindest auf den ersten Blick: War doch die Entstehung der Linkspartei ein Anti-Schröder- und Anti-Hartz-Votum - und der dabei zentrale Oskar Lafontaine des Kanzlers Erzfeind. Doch hätte nicht ein Alphagespräch bei Moselwein alle Feindrhetorik der Kampagnen wegwischen können? Erklärbar wäre das gewesen. Hatte nicht Schröder fast 20 Prozent Rückstand wettgemacht, indem er auf das »neoliberale« Steuerkonzept des Merkelberaters Paul Kirchhoff - der »Professor aus Heidelberg« - schimpfte und Sätze wie »Menschen sind keine Sachen!« in schwitzige Säle brüllte?

Gewiss, man hätte allerseits viel Chuzpe gebraucht. Doch Hartz IV, damals kaum in Kraft, hätte sich zu dieser Zeit noch mit geringem Gesichtsverlust wegmildern lassen. Etwa durch den Mindestlohn, der im »Manifest« der SPD stand. Bei entsprechender Höhe hätte er die Eskalation des Niedriglohnsektors ausgebremst und - als ernst genommenes »Zumutbarkeitskriterium« - auch den Zwangscharakter des neuen Arbeitsmarktregimes erheblich aufgeweicht. Die PDS/WASG hätte sich derweil bei der »Bürgerversicherung« profilieren können, die auch die SPD forderte - oder bei der »Reichensteuer«. Außenpolitisch hatte Irak den Kosovokrieg überlagert, und »gegen Bush« war man sich rot-rot einig, zumindest rhetorisch. Für die Grünen hätte sich sicher auch etwas gefunden, und sei es nur die Fahrradkette.

Apropos: Auch Steinbrück hätte Kanzler werden können. Weil 2013 die FDP und ihre damalige Stiefschwester AfD unter fünf Prozent blieben, hatte »R2G« eine Mehrheit von neun Mandaten. Die Linkspartei gefiel sich denn auch regelmäßig in dem Gag, von der Union blockierte SPD-Versprechen - wiederum die »Bürgerversicherung«, scharfe Bankenregulierung, Verbot von Nahrungs- und Rohstoffspekulation, Steuererhöhungen im obersten Einkommenssegment nebst Vermögens- und Kapitaleinkunftssteuer - ins Parlament zu bringen, um die Sozis in ihrer Babylonischen Gefangenschaft vorzuführen. Eine sozialdemokratische Revanche für 1982 ließ sich nicht nur rechnerisch darstellen, man hätte sie in den Nachwehen der »Finanzkrise« auch vermitteln können. Was hätte das wirklich nach links gekostet? Einen offensiv kommunizierten Rückzug aus dem ohnehin aussichtslosen Afghanistankrieg?

Wer heute 30 ist, kann sich das Land ohne Merkel kaum vorstellen. Dabei war ihre Ära nie alternativlos. Eine - zumindest etwas - andere, ja bessere Republik war möglich. Stattdessen diskutierte die SPD anno 2015, ob sie bei offensichtlicher Chancenlosigkeit ihre Spitzen- noch »Kanzlerkandidatur« nennen solle. Wohlgemerkt zu einer Zeit, in der sie Merkel täglich hätte stürzen können. Und diese Partei sollte man wirklich wählen?

Für die Macht tun Politiker alles? Die sozialdemokratische Selbstverzwergung der Nuller- und Zehnerjahre beweist das Gegenteil. »Verantwortung« und »Vernunft« - also ein geteilter Glaube an fragwürdige bis falsche Dogmen, besonders in der Wirtschaftspolitik - haben den Willen zur Macht überlagert. Links geblinkt hat die SPD auch danach immer wieder, aber abgebogen ist sie nie. Und seit 2017 bietet sich auch keine geeignete Ausfahrt mehr. Begonnen hat das ausgerechnet bei Schröder. Er war nicht der »Instinktpolitiker«, als der er immer galt. Aus dem Rausch seiner heftig links blinkenden Aufholjagd zog er nicht die Konsequenz, die Macht dort aufzuheben, wo sie offensichtlich lag. Hätte er wirklich gewollt, dann hätte er wohl gekonnt. Das hätte schiefgehen können, aber nicht müssen. Vielleicht wäre ein Land mit weniger Hass und Spaltung entstanden - und Merkel statt Steinbrück wäre die Fußnote.

So zeigt die Rückschau, dass Geschichte sehr offen sein kann und oft flüchtige Momente langfristig die Weichen stellen. Oder profaner: Vielleicht hätte man Schröder in den merkwürdigen, spannenden Wochen nach der Wahl von 2005 mehr von dem geben sollen, das er an jenem Elefantenabend im September augenscheinlich intus hatte.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal