Bolivien erhält eine Blockadepause

Gewerkschaften und soziale Bewegungen akzeptieren das Kompromissangebot der De-facto-Regierung

  • Thomas Guthmann, La Paz
  • Lesedauer: 4 Min.

»Auszeit!«, verkündete Juan Carlos Huarachi, Vorsitzender vom Gewerkschaftsbund COB, am vergangenen Freitag, »wir werden die Blockaden vorläufig beenden und die Wahlen abwarten, wir werden aber wachsam bleiben.« Er akzeptierte damit überraschend den Kompromiss zu den Wahlen im Oktober, den das Protestbündnis kurz zuvor noch abgelehnt hatte. »Der 18. Oktober ist nicht im Herzen eines jeden Bolivianers«, meinte Juan Villca, ein Sprecher der Allianz am Vortag.

Am Donnerstag hatte die Übergangspräsidentin Jeanine Áñez das Gesetz unterzeichnet, das den Weg zu Wahlen endgültig auf den 18. Oktober festlegt. Bereits unter der Woche hatten Funktionär*innen der Bewegung zum Sozialismus (MAS), die sozialen Bewegungen gebeten, das Kompromissergebnis, das Parlament, Wahlbehörde und Regierung unter Vermittlung der UNO ausgehandelt hatten, anzunehmen. Der sich im argentinischen Exil befindliche Ex-Präsident Evo Morales persönlich wandte sich an die sozialen Bewegungen: »Man sollte verantwortlich zwischen dem Rücktritt von Áñez, der unsere Rückkehr zur Demokratie weiter verzögern würde oder schnellen Wahlen unter der Aufsicht der Vereinten Nationen entscheiden«, twitterte er.

Die gesamte vergangene Woche über waren die Rücktrittsforderungen gegen die Übergangspräsidentin lauter und die Blockaden im Land verstärkt worden, weil sich abzeichnete, dass die Hauptforderung der Protestierenden, die Einhaltung des Wahltermins vom 6. September, von den Parlamentskammern, die nach wie vor in den Händen der MAS sind, der Wahlbehörde und der Übergangsregierung übergangen werden würden. Einen möglichen Kompromisstermin zwischen den beiden Wahlterminen hatte Salvador Romero, Vorsitzender der Wahlbehörde TSE, kategorisch ausgeschlossen. Der Gewerkschafter Huarachi und seine Mitstreiter*innen standen somit mit leeren Händen vor ihrer Basis, die seit dem 3. August das Land mit Blockaden weitgehend lahmgelegt hatte. Dass sie dem Kompromiss dennoch zustimmten, begründete er damit, dass man »Tote« vermeiden wolle.

In der Tat hatte sich die Situation vergangene Woche erheblich zugespitzt. Immer öfters tauchten in den sozialen Medien Videos auf, in denen sich in den Reihen der Protestierenden bewaffnete Gruppen präsentierten. Einige posierten mit den alten Flinten von der Revolution von 1952. Im Departamento La Paz wurde Felipe Quispe, der den Beinamen Mallku (indigene Autorität) trägt, zum Kommandant der Blockaden ernannt. Der Mallku gehört dem radikalen indigenen Flügel an, der für die Unabhängigkeit und Abspaltung von Bolivien kämpft. Quispe war 2003 beim Krieg ums Erdgas innerhalb der Aufständischen der Gegenspieler von Evo Morales, der damals Oppositionschef war.

Auf der Gegenseite mobilisierten der Jugendwiderstand Cochala (Resistencia Juvenil Cochala) und die Jugendvereinigung von Santa Cruz (Unión Juvenil Cruzeñista). Während der RJC bei den Protesten gegen Evo Morales vergangenes Jahr entstanden ist, bestand die UJC bereits 2008, als sich das Departamento Santa Cruz wegen der Amtsübernahme durch Evo Morales von Bolivien, abspalten wollte. Beide Organisationen rekrutieren sich aus der städtischen Mittelschicht von Cochabamba und Santa Cruz. Ideologisch sind die Akteure uneinheitlich. Sie eint aber der Hass auf die »Indios«.

Vor allem die RJC stand in den vergangenen Tagen immer wieder im Rampenlicht, weil es Hinweise auf paramilitärische Strukturen gibt. Immer wieder tauchen Gerüchte auf, dass sie sich Waffen beschaffen. In der jüngsten Zeit gab es zudem Berichte über eine punktuelle Zusammenarbeit der Gruppen mit dem Sicherheitsapparat. So berichtete das Internetportal Muy Waso, »sie koordinieren Aktionen mit und erhalten Informationen von den Polizeikräften«.

Eine weitere Rolle für die Entscheidung, sich vom Protest eine Auszeit zu nehmen, dürfte die Corona-Pandemie gespielt haben. Vor allem aus El Alto zirkulierten zuletzt eine Vielzahl von Todesanzeigen in den sozialen Netzwerken. Das Gesundheitssystem funktioniert schon lange nicht mehr und Bestattungen sind kaum noch zu bezahlen. Viele Bolivianer*innen sind gerade damit beschäftigt, Verwandte unter die Erde zu bringen, ohne sich bis zum Hals verschulden zu müssen. Die Pandemie ist völlig außer Kontrolle, es gibt kein sichtbares koordiniertes Vorgehen der Behörden und auch eine Strategie ist nicht erkennbar. Dazu kommt eine zunehmend desaströse wirtschaftliche Situation. Offiziell geht die Weltbank bisher von einem Einbruch der Wirtschaft von knapp sechs Prozent für das laufende Jahr aus. Da der Höhepunkt der Pandemie noch nicht erreicht ist, eine optimistische Prognose.

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