»Wohin rennen wir die ganze Zeit?«

Aslı Kışlal will mit dem Divercitylab die Bühnen Wiens diversifizieren. In ihrem neuen Projekt bricht die Regisseurin mit klassischen Frauenrollen

  • Sarah Nägele
  • Lesedauer: 7 Min.

Aslı Kışlal ist Regisseurin, Dramaturgin und Schauspielerin. 1970 in Ankara geboren, lebt sie seit 1990 in Wien, wo sie Soziologie an der Universität in Wien und Schauspiel am Schubert Konservatorium studierte. 1995 erhielt sie für ihre Echo-Theatergruppe den Preis für die »Beste Jugendtheatergruppe Österreichs«. Im Interview spricht sie über Aussprache- statt Schauspielunterricht, »europäische Bewegungen« und Rollenbilder von Medea bis heute.

»Traut ihr euch an den Bienen vorbei?« Aslı Kışlal deutet auf einen großen Feigenbaum, der im Innenhof eines Hauses im zehnten Wiener Gemeindebezirk steht und in dem es summt. Hinter dem Baum führt eine kleine Treppe zum Eingang eines Häuschens. Früher war das ein Fiakerhaus, ein steinerner Pferdekopf über der gestreiften Markise erinnert daran. Heute ist hier das Divercitylab (Eigenschreibweise: diverCITYLAB) - eine Performance- und Schauspielakademie - untergebracht. Aslı Kışlal ist künstlerische Leiterin, Regisseurin, Schauspielerin. Sie schaut zum Feigenbaum.

Wie die Natur sich alles erobert! Wir sind jetzt im dritten Sommer da, und die ersten beiden war der Baum nur eine traurige Angelegenheit.

Er ist wieder aufgeblüht.

Ich muss meinen Studenten ein Foto schicken.

Sie sind seit 2017 hier?

Genau, das Divercitylab gibt es seit 2013, seit 2017 sind wir hier. Davor waren wir im Theater Werk X als autonomes Projekt. Wir hatten einen Raum, aber jetzt haben wir ein ganzes Häuschen! Die Studenten und Absolventen sehen das als ihr Haus. Gerade übt einer hier. Das finde ich total schön.

Das Divercitylab ist gleichzeitig Atelier und Ausbildungsstätte?

Es hat drei Säulen: Die Akademie, Artists in Residence, und dann gibt es Kunstvermittlungsprojekte. Aber eigentlich ist alles fake. Das ist ein kunstpolitisches Projekt, getarnt als Schule. Mir ging es nicht darum, eine Schule zu gründen, mir ging es darum, die Bühnen dieser Stadt zu diversifizieren, alte Denkweisen zu erneuern. Den Leuten eine Chance zu geben, und den Institutionen zu zeigen: Da gibt es eine Kraft! Und jetzt bewegt ihr euch mal!

Auf Ihrer Webseite steht der Satz: »Acting verstehen wir als reacting.« Worauf reagieren Sie?

Auf das Bild der Gesellschaft. Das Gesellschaftsbild hat sich schon sehr lange geändert, doch das Theater hat es verpasst, darauf zu reagieren. Es gibt diesen berühmten Satz von Shakespeare, dass das Theater - die Kunst - der Spiegel der Gesellschaft ist. Was bedeutet das physisch? Der Spiegel steht vor mir und zeigt mir meinen Ist-Zustand. Aber die Gesellschaft hat sich weiter entwickelt, und der Spiegel zeigt etwas, das es nicht mehr gibt.

Sie sind mit 19 von Ankara nach Wien gekommen und machen nun schon lange Theater - ist das auch eigene Erfahrung?

Ja. Am Anfang war mir die Reaktion von außen aber nicht bewusst. Ich hatte ein abartiges Selbstbewusstsein, ohne Deutschkenntnisse. Ich dachte, ich sei supertalentiert. Mit dieser Haltung bin ich zur Schauspielschule gegangen. Man hat mich aufgenommen. Alle anderen haben Schauspielunterricht bekommen, und ich saß den ganzen Tag an meiner Sprechtechnik. Die Klassen kamen und gingen, und ich habe deutsche Aussprache gelernt. Jahrelang. Bestimmte Lehrer hatten Panik, dass ich eine schlechte Werbung für die Schule sein könnte. Man hat mir gesagt, ich hätte keine europäischen Bewegungen.

Was ist das?

Eben. Ich wusste auch nicht, was das ist. Ich habe meine Mitschüler als ungelenkig empfunden. Deshalb dachte ich, das sei ein Kompliment und habe »danke« gesagt! Aber irgendwann ist es nicht mehr unterschwellig, sondern ganz offen rassistisch. Wenn du das erkannt hast, kannst du nicht mehr zurück. Du fängst an zu reflektieren, was dir alles passiert ist. So habe ich meine Erfahrungen in alle meine Projekte einfließen lassen.

Und aus dieser Erfahrung kam dann auch der Wandel? Von der Schauspielerin zur Regisseurin, Drehbuchautorin …

Ja, aus der Not sind die Dinge entstanden. Nur schauspielern war mir zu wenig. Ich wollte mitdenken, mitgestalten. Als ich angefangen habe, war es nicht notwendig, dass Schauspieler denken können. Das hat mich getriggert, und ich habe mir gedacht: »Ich kann es besser.« Das kommt alles von diesem Selbstbewusstsein (lacht). Ich habe angefangen, selbst Projekte zu machen. Und darüber nachzudenken, wie man mit alter Literatur umgeht. Was erzählen wir der jungen Generation? Wie gehen wir mit Rollenbildern um? Diese Schule ist ein Experiment. Die Studenten haben viel zu sagen und zu kritisieren. Aber: Wenn du etwas kritisierst, dann biete etwas Neues an. Es geht darum, Wege zu finden.

Hat sich seit 2013 etwas verändert in der postmigrantischen Kulturszene?

Seit 2015 hat sich wahnsinnig viel geändert, im Positiven wie im Negativen. In diesem berühmten Sommer haben Kunstinstitutionen plötzlich begonnen, zu reagieren. Da habe ich mir gedacht: »Endlich!« Aber sie haben angefangen, die Personen nur als Geflüchtete wahrzunehmen, die sich selbst reproduzieren. Jeder musste mal auf die Bühne und seine Elendsgeschichte erzählen. Und das nicht nur bei einem Projekt, sondern immer wieder. Für mich ist das Seelenpornografie, mit Kunst hat das nichts zu tun. Der erste Schritt war gut - Kunstinstitutionen haben kapiert, dass sich die Gesellschaft ändert. Aber wie sie reagieren sollten, das muss auch gelernt sein.

Ihr neuestes Projekt ist »Medeas Töchter«. Medea ist eine der bekanntesten Frauenfiguren der griechischen Mythologie. Klug und liebend, wird sie verstoßen und tötet ihre Kinder.

Wir sind zwei Regisseurinnen und eine Choreographin, die dieses Projekt zusammen gemacht haben. Die berühmteste Medea-Geschichte ist jene, die Euripides geschrieben hat. Keiner kennt die Geschichte genau, aber jeder weiß: »Medea ist die, die ihre Kinder umgebracht hat.« Es gibt allerdings Recherchen, die sagen, die Geschichte sei älter als Euripides und die Antike, und eigentlich waren es die Korinther, die die Kinder getötet haben, weil sie Angst vor Medeas Heilkräften hatten. Als Euripides die Geschichte nochmal schreiben wollte, habe das Volk ihm Schuldgeld gezahlt, damit er den Mord Medea anhängt. Aha! Durch eine männliche Zuschreibung und eine gekaufte Geschichte wurde Medea zur größten Sünderin. Das hat uns total inspiriert! Wir wollten verschiedene Versionen von Medeas Geschichte erzählen. Wir hatten 50 Frauen, mit denen wir einen Stadtspaziergang planten, Demonstrationen und eine Angelobung der Frauen als die Zukunft. Das hat nicht geklappt durch den Lockdown.

Ist der Lockdown in die Produktionsphase gefallen?

Ja. Wir haben viele Frauen aus den Augen verloren und mussten letztlich kurzfristig schnell reagieren. Die übrigen Frauen haben dann zu Hause Videos produziert. So sind sehr viele Projekte entstanden. Die Regisseurin Corinne Eckenstein hat mit fünf Schauspielerinnen unter Einhaltung sozialer Distanz Monologabende inszeniert. Wir haben Workshops mit Slam Poetry und Rap-Texten veranstaltet, die Frauen haben selbst Texte geschrieben. Die Choreographin Magdalena Chowaniec hat Chöre im öffentlichen Raum inszeniert. Und ich habe mit meinen Studenten ein Hörspiel produziert, einen Audiowalk. Du kannst selbst wählen, welche Tochter du hörst.

Wer sind denn Medeas Töchter?

Viele derzeit systemrelevante, aber in den Hintergrund gedrängte Frauen. Wir wollten allerdings nicht alle nur als heilig darstellen. Es gibt auch eine rassistische Tochter, die Probleme mit ihrer Mutter hat, sich nicht integrieren kann. Und es gibt eine neoliberale Tochter, die durch ihre Mutter an Geld kommen will, Bücher schreibt, auf Tournee geht. Unser Gedanke war: Nichts ist heilig, wir können alles aufbrechen!

Also es geht darum, Frauenrollen aufzubrechen?

Genau.

Gab es durch Corona eine Rückdrängung der Frau in alte Rollenbilder?

Hm. Die Leute sagen das immer. Ich zum Beispiel kann nicht kochen. Während Corona habe ich mit Hilfe von Youtube-Videos damit begonnen. Das macht Spaß. Werde ich da in eine Rolle gedrängt? Nee. Was ich total spannend fand, war das Verlangen nach Normalität bei gleichzeitiger Sorge, dass die häusliche Gewalt zunimmt. Wir haben uns für Menschen entschieden, mit denen wir unser Leben verbringen wollen und können keinen Monat miteinander auskommen? Und das nennen wir Normalität? Dann will ich nicht zur Normalität zurück, wir müssen weiter denken. Wohin rennen wir die ganze Zeit?

Mal kurz anhalten.

Ja! (Zeigt aus dem Fenster.) Schau mal! Die Natur!
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