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Die heikle Frage nach der Herkunft

Wie das Naturalienkabinett in der sächsischen Kleinstadt Waldenburg die koloniale Vergangenheit seiner Exponate aufklärt

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 8 Min.

Das Naturalienkabinett in Waldenburg ist ein Panoptikum, ein Schatzkabinett, eine Wunderkammer. Wer die lange Flucht aus Räumen voller Vitrinen betritt, kommt aus dem Staunen kaum heraus: über die schiere Vielfalt an gesammelten Muscheln und Seesternen, aufgespießten Schmetterlingen, ausgestopften Vögeln, wertvollen Mineralien. Über die allumfassende Vielfalt der Exponate, zu denen auch physikalische Experimentieranordnungen, alte Globen oder Kunstwerke aus aller Welt gehören. Manches lässt schaudern: die siamesischen Zwillingskälber etwa, die im letzten Raum ausgestellt sind. »Wir gelten«, sagt Museumsleiterin Fanny Stoye, »deshalb vielen als eine Art Gruselkabinett.«

Als Stoye vor ihrem Dienstantritt im Sommer 2018 erstmals die Sammlung inspizierte, gruselte es sie an einer anderen Stelle: vor einer Vitrine, in der ethnografische Exponate ausgestellt sind. Zu sehen sind Schuhe und geschnitzte Holzlöffel, Kleidungsstücke und Kleinplastiken aus Asien oder Afrika. Vor einer Frauenfigur las sie ein Schild: »Negerin. Holzskulptur Ostafrika«. Stoye traute ihren Augen nicht: ein Begriff, dessen diffamierender Charakter seit Jahrzehnten bekannt ist, wird kommentarlos in einem Haus verwendet, das der öffentlichen Bildung dient. Ihr Entsetzen wuchs, als sie erfuhr, dass an dem Begriff scheinbar nie jemand Anstoß genommen hatte: Mitarbeiter, Betreiber, Besucher. »Ich fragte mich: Wie gehen wir hier mit anderen Kulturen um?«, sagt sie. Ihr schwante: Es gibt ein Problem. Was sie wohl nur ahnte: Diese und weitere Vitrinen stecken voll solcher Probleme.

Naturalienkabinette wie in Waldenburg versammeln Wissen über die Welt, zusammengetragen von Menschen, die sich dieses Wissen und die Welt aneigneten: Reisende, Händler, Forscher, Missionare. Den Grundstock bildete eine 1670 begonnene Sammlung der Apothekerfamilie Linck aus Leipzig, die von barockem Wissensdurst und Repräsentationsbedürfnis angetrieben war. 1840 wurde die Sammlung an Fürst Otto Victor I. von Schönburg-Waldenburg gekauft, der sie um weitere ergänzte; 1200 ausgestopfte Vögel etwa, die ein Zuckerbäcker in Greiz zusammengetragen hatte. Auch später wurde das Kabinett stetig erweitert; etliche fehlgebildete Kälber kamen erst in der DDR-Zeit hinzu. Während vergleichbare Sammlungen oft zerpflückt und auf die später entstandenen spezialisierteren Museen aufgeteilt wurden, ist die in Waldenburg erhalten. Und so beherbergt das einstige Residenzstädtchen bei Zwickau in Westsachsen heute ein nahezu einzigartiges Museum, sagt Stoye: »Man muss weit fahren, um in Europa etwas Vergleichbares zu finden.«

Alles andere als einzigartig sind indes die Fragen, die nicht wenige der Waldenburger Exponate aufwerfen, vor allem jene, die einst »völkerkundlich« genannt wurden. Immer mehr Museen stellen sich die Frage, wie Kleidung, Speere, Pfeifen aus fernen Weltgegenden, aber auch rituelle Gegenstände oder gar Gebeine, Mumien und »Schrumpfköpfe« in ihren Besitz kamen - und wie heute damit umgegangen werden soll. Oft gelangten sie im Zuge kolonialer Eroberung nach Europa, in einem Prozess also, der von Gewalt und Rechtlosigkeit, Enteignung und der Herabsetzung anderer Kulturen geprägt war. Heute gibt es in vielen Ländern, die einst als Kolonisatoren agierten, eine kritische Aufarbeitung der Zeit; gleichzeitig stellen Nachfahren der einst Kolonisierten drängende Fragen nach Schuld und Verantwortung - auch an Museen. Die sind deshalb gefordert, die »Provenienz«, also die Herkunft von Ausstellungsgegenständen, zu klären und Konsequenzen zu ziehen. Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden etwa gaben menschliche Gebeine von Maori aus dem Museum für Völkerkunde nach Australien und Hawaii zurück.

In der Waldenburger Sammlung gebe es keine solchen »human remains«, sagt Stoye - was nicht heißt, dass man nicht auch Fragen zu klären hätte. Vor der Holzskulptur mit dem skandalösen Schild liegt ein Ausstellungsstück, das als »Schmuck der Massaikrieger« betitelt ist; mit einem Begriff, der die Volksgruppe pauschal als blutrünstig brandmarkt. Es handelt sich um zwei aus Messing bestehenden Spiralen von der Größe eines Handtellers, die von kunstvoll mit Perlen verzierten Lederbändern verbunden sind. Sie wurden von Frauen in den geweiteten Ohrläppchen getragen und galten als Statussymbol. Keine der Frauen, ist sich Stoye sicher, hätte sie freiwillig abgegeben. Allerdings gab es während der Kolonisierung in »Deutsch-Ostafrika« Aufstände der Massai, die blutig niedergeschlagen wurden und während derer auch Frauen enthauptet wurden - um an ihren Schmuck zu gelangen. Andere seien im Zuge von Missionierungsbemühungen genötigt worden, sich von diesem zu trennen. So oder so: »Um harmlose Souvenirs«, sagt Stoye, »handelt es sich jedenfalls nicht.«

Die Sammlung enthält weitere Exponate, die problematisch sind - und die Frage aufwerfen, ob sie bedenkenlos in einem Museum gezeigt werden sollten. In einem Kabinett stehen in zwei Schaukästen Trommeln, die bei den in Nordeuropa lebenden Samen von deren Schamanen genutzt wurden. Ihre Felle zieren magische Zeichen; sie dienten dazu, die Zukunft vorherzusagen oder die Heilung Kranker zu befördern. Es waren also wichtige rituelle Gegenstände, deren Gebrauch christliche Missionare allerdings zu unterbinden suchten. Teils wurden sie verbrannt, teils verkauft. Die Waldenburger Exemplare erwarb ein Mitglied der Apothekerfamilie Linck wohl 1690 in Kopenhagen.

Ein ähnlich sensibles Objekt ist eine Art Keule, die im Treppenhaus hängt und von der Stoye bei Recherchen herausfand, dass es sich um ein Patu handelt: ein Standeszeichen von Häuptlingen der Maori. Die Museumschefin bekam das von einer Expertin in Neuseeland bestätigt, die sie per Mail kontaktierte. Patus wurden entweder vererbt oder verstorbenen Häuptlingen ins Grab mitgegeben. »Wie«, fragt Stoye, »kommt dieses Exemplar dann nach Waldenburg?«

Bei einem anderen Exponat ist die Frage geklärt. Ein vermeintlich »indianischer Götzen« ist tatsächlich eine Holzfigur aus China, die sich ein deutscher Matrose in der Zeit der gewaltsamen Niederschlagung des so genannten Boxer-Aufstandes um 1900 aneignete und die 1936 nach Waldenburg gelangte. »Es hieß stets: Die Figur war schon immer da und sei unverfänglich«, sagt Stoye: »Aber man darf in Sammlungen wie unserer nichts als gegeben hinnehmen. Man muss Fragen stellen.«

Dass dies in einem Museum wie dem Naturalienkabinett geschieht, ist nicht selbstverständlich. Provenienzforschung mit Blick auf die Kolonialzeit steht in der Bundesrepublik noch am Anfang und wird bisher eher mit großen Häusern wie dem Humboldt-Forum in Berlin in Verbindung gebracht, nicht aber mit kleinen Museen in der Provinz. Zudem beschränkt sich die deutsche Debatte bisher weitgehend auf den Umgang mit »human remains«. Generell findet das Thema viel weniger Beachtung als etwa in Frankreich, wo Präsident Emmanuel Macron Ende 2018 einen »Bericht zur kolonialen Raubkunst« vorlegte. Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy aus Frankreich und der senegalesische Ökonom Felwine Sarr fordern darin einen harten Schnitt: die generelle Restitution afrikanischer Objekte aus französischen Museen, sofern nicht belegt werden kann, dass sie auf legitime Weise dorthin kamen. Die Initiative Macrons gilt deutschen Experten als »Wendepunkt im Umgang mit dem kolonialen Erbe«, wie der Afrikawissenschaftler Jürgen Zimmerer im November 2019 im »Deutschlandfunk« sagte.

Fanny Stoye verfolgt die französische Debatte um Herkunft und Rückgabe, erlebt aber auch, wie allein das Stellen entsprechender Fragen von vielen in ihrer Umgebung als ungehörig empfunden wird. Sie teilt Bénédicte Savoys Einschätzung, es herrsche eine »Amnesie« bezüglich der Kolonialgeschichte - ein Vergessen, das ihrer Überzeugung nach in der Bundesrepublik noch ausgeprägter sei als in Frankreich und mit Verklärung einhergehe. Gern wird von Kolonisatoren im Nahen Osten oder »Deutsch-Südwest« geschwärmt, die Eisenbahntrassen bauten, Schulen errichteten, die Verwaltung auf Vordermann brachten und Kunstgegenstände in Museen brachten, wie es sie in den Kolonialgebieten nicht gegeben habe. Stoye zitiert einen Biologieprofessor, der ihr bei einer Führung unumwunden erklärte, »die da unten« hätten sich allein doch gar nicht ausreichend um ihre Kulturgüter kümmern können. »Die Gewaltverbrechen, die dahinterstehen; das Ungleichgewicht zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten«, sagt sie, »all das wird dagegen allzu gern ausgeblendet.«

Verstärkt wird dieser Unwillen durch Sorge um den Fortbestand der Sammlung, falls es zu Restitutionen kommt. Es gebe »große Verlustängste« und Furcht, dass eine Rückgabe einzelner Objekte einen Schneeballeffekt nach sich ziehe. Stoye macht keinen Hehl daraus, dass sie bei einzelnen Objekten eine Restitution für denkbar und auch angemessen hielte, etwa bei dem Patu oder den Schamanentrommeln. Das schwedische Samenparlament forscht in europäischen Museen seit geraumer Zeit nach dem Verbleib solcher Trommeln. Die Sorge vor einer Entleerung des Museums hält sie aber für unbegründet. Die Provenienzforschung zu Kulturraubgut aus der NS-Zeit zeige, dass einvernehmliche Lösungen mit Nachfahren möglich sind; der Verbleib von Objekten als Leihgabe etwa, verbunden mit Erklärungen zur Herkunft. Auch als Nachbildung könnten Objekte im Museum präsent bleiben.

Stoye hat sich dem Thema Provenienzforschung über Recherchen zu NS-Raubgut genähert: zunächst als Volontärin am Grassi-Museum in Leipzig, dann am Zeppelin-Museum in Friedrichshafen, wo sie eine Schau zu Raubkunst kuratierte. In Waldenburg will sie mit Blick auf eine andere historische Epoche daran anknüpfen - freilich unter schwierigen Bedingungen. Das von der rund 4000 Einwohner zählenden Stadt getragene Museum leidet unter chronischem Personalmangel; Zeit für Recherchen zur Kolonialgeschichte einzelner Ausstellungsgegenstände finde sie allenfalls »in langen Nächten mit viel Kaffee«. Das Museum und die Stadt haben deshalb einen Förderantrag beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste gestellt, das seit 2019 auch Forschungen zu »Kultur- und Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten« fördert. Ob er bewilligt wird, entscheidet sich in den kommenden Wochen.

Unabhängig davon wünscht sich die Waldenburger Museumschefin mehr Unterstützung für kleine Häuser wie ihres bei so anspruchsvollen Forschungsarbeiten. Das betrifft etwa die Vermittlung von Kontakten zu Ansprechpartnern in den einst kolonisierten Ländern, in denen es womöglich politische oder wissenschaftliche Initiativen zu Kulturgutverlusten gibt. In der Pflicht sieht sie Land wie Bund. Die Bundesregierung verwies in einer Mitteilung vom Februar auf einen Leitfaden des Deutschen Museumsbundes zum Thema und kündigte die Einrichtung einer »zentralen Kontaktstelle« an. Betont wird, es seien nicht nur ethnologische Sammlungen betroffen, sondern zum Beispiel auch naturkundliche und historische oder Heimatmuseen. Stoye hofft auf eine »umfassende Strategie«, zu der etwa auch Empfehlungen zum Umgang mit Restitutionswünschen gehörten. In Waldenburg wäre man für so etwas womöglich sehr dankbar, sollten Anfragen wie zum Beispiel die des samischen Parlaments zu den zwei Schamanentrommeln irgendwann auch das Naturalienkabinett oder das Rathaus der ehemaligen Residenzstadt in der sächsischen Provinz erreichen.

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