nd-aktuell.de / 22.08.2020 / Kultur / Seite 36

Die Zeit steht still in Voglweh

Ein Ausstieg wider Willen in den Schweizer Alpen

Wenn man vom Zustand der Militärstraße auf die Wehrhaftigkeit der hiesigen Armee schließen wollte, drängte sich der Gedanke auf, das ganze Land könne problemlos mit Steinschleudern in Besitz genommen werden. Die Straße, auf der wir jetzt entlangrumpelten, war nicht nur extrem schmal, sie hatte auch die gesamte Palette an Straßenschäden zu bieten: Abbrüche, Spurrillen und Bodenwellen, Schlagloch reihte sich an Schlagloch.

Trotzdem kam Andrin mir jetzt weniger angespannt vor. Seit wir die Passstraße verlassen hatten, fuhr er mit der schlafwandlerischen Sicherheit des Ortskundigen. So gut es ging, umkurvte er die schadhaftesten Stellen. Für seine Ausweichmanöver war wenig Raum und so blieb es nicht aus, dass es den Jeep abenteuerlich von einer Seite auf die andere warf. Wir Insassen wurden kräftig durchgeschüttelt. Ich hielt mich gleichzeitig an Deckengriff und Sitz fest, um nicht gegen irgendetwas geschleudert zu werden. Andrin hatte nur das Lenkrad zum Festhalten; bei den ärgsten Löchern hob es ihn zentimeterhoch aus seinem Sitz.

Draußen nagte das Unwetter unermüdlich an Farben und Formen, hatte Himmel, Wiesen, Fels und was sonst draußen an uns vorbeiziehen mochte, vertilgt und die Landschaft als undurchsichtigen Watteklumpen wieder ausgespuckt. Ich wusste schon lange nicht mehr, wo wir uns befanden. Alles war grau. Es gab das Nebelgrau, das nicht nur den Raum sondern auch die Zeit egalisierte. Es gab das Wassergrau, das vom Himmel rauschte, das schuttartig gegen die Scheiben klatschte, das in Bächen über die Straße lief, so dass der Jeep sekundenlang schwamm, wenn die Reifen den Kontakt zum Boden verloren, und es gab das Grau, das sich in meinem Kopf ausbreitete, das meine ursprüngliche Vorstellung von Voglweh verblassen ließ, als würden Schwamm und Wasser ein unvollständiges oder misslungenes Aquarell vom Papier waschen. Und alles verband sich in dem nicht enden wollenden Geprassel der Regentropfen auf Fenster, Dach, Motorhaube und Ladung mit dem Taktschlag, mit dem der Scheibenwischer das Konzert dirigierte und dabei ein Tempo anschlug, schneller als ein Sportlerherz bei maximaler Belastung.

Ich kann nicht sagen, wie lange wir in dieser Schlechtwetterwolke gefangen waren, bis der Regen etwas nachließ und der Nebel transparenter wurde. Von irgendwoher fiel ein magisches Licht in die Ungegend und lupfte das Grau wie einen Theatervorhang verheißungsvolle zwei, drei Meter empor.

Zu beiden Seiten des Fahrzeugs materialisierten sich vor Nässe glänzende Sockelzonen anthrazitfarbener Felswände und verloren sich in unwägbaren Höhen. Erst hielten sie Abstand, rahmten die Fahrbahn respektvoll ein, dann kamen die Wände näher und näher, wurden aufdringlich, waren weniger als eine Armlänge, dann eine Handbreit vom Jeep entfernt, bis die Straße nur noch ein Spalt im Fels war.

Wir holperten durch den steinernen Kanal, eine Klamm, bis die rechte Felswand abrupt endete. Mehr Licht kam durch die Wolken, brachte nun eine deutliche Verbesserung der Sicht, bis die Umgebung wieder farbig wurde. Aus meinem Fenster sah ich weit unterhalb der Straße ein grünes Tal. Inmitten des Tals lag ein See, dessen von Regen und Wind bewegte Oberfläche in einem dunklen Türkis schimmerte.

»Da ist es«, sagte Andrin, leiser nun, da die Wassertropfen weniger heftig auf das Auto trommelten. Das Unwetter schien abzuklingen. Ich fand, dass wir uns eine Atempause verdient hatten.

Ab jetzt ging es bergab. Die Fahrt wurde rasant, links war der Fels, die rechte Straßenflanke war ungesichert, keine Leitplanke, keine Mauer, nicht einmal ein Begrenzungspfosten markierte das steil abfallende Gelände direkt neben der Fahrbahn. Der Jeep rollte schneller, wie ein Lasttier, das den heimatlichen Stall wittert. Andrin hielt das Fahrzeug dicht an der Felswand, da an meiner Seite der Abgrund gähnte. »Da ist der Zufluss des Sees!« Mit einer raschen Kopfbewegung wies er in Richtung eines Baches oder Flusses, der zäh wie Quecksilber in den Wiesen glitzerte, um sich kurz darauf als Wasserfall in den See zu stürzen.

»Zum Schwimmen zu kalt?«, fragte ich, nur um auch mal wieder etwas zu sagen. Vier Worte, die angespannte Kiefermuskulatur zu lösen.

»Für mich ist es okay«, antwortete er.

Allein der Gedanke an ein Bad in diesem See jagte mir erneut einen Kälteschauer über den Rücken. »Okay ... «, wiederholte ich und zog die letzten Buchstaben des Wortes als Dehnübung für die verkniffenen Lippen in die Länge.

Rund um den See lagen Felsbrocken, wie hingestreut, als hätten Kinder mit Murmeln gespielt und wären gegangen, ohne aufzuräumen. Ich hätte nicht sagen können, wie breit der Zufluss, wie groß der See, die Steine oder die Wiesen sein mochten, weil ich während der Blindfahrt jeden Maßstab verloren hatte. Erst als Andrin mich auf drei braune Kühe in Ufernähe aufmerksam machte, indem er sagte, er müsse ihnen nur im Herbst Heu und Kraftfutter bringen, bekam ich wieder ein Gefühl für die richtigen Größenverhältnisse. Demnach hatte der See ungefähr die Ausmaße zweier Fußballfelder und die Steinmurmeln waren so gewaltig, dass höchstens Kinder von Riesen damit hätten spielen können.

Seit unserem kurzen Gespräch auf der Passstraße wusste ich, dass ich hier kein Dorf und kein Hotel erwarten durfte, aber derart verlassen hatte ich mir Voglweh dann doch nicht vorgestellt. Soweit ich sehen konnte, gab es nicht einmal einen zentralen Siedlungsbereich.

Nachdem wir die Talsohle erreicht hatten, führte die Straße erst auf den See zu und folgte dann der Uferzone. Links des Weges, ein Stück den Berg hoch, tauchten nacheinander drei Häuser auf, tauchte vielmehr das auf, was von ihnen übriggeblieben war: zweimal in Trümmern liegende Überreste menschlicher Behausungen, mehr oder weniger dem Verfall preisgegeben, glaslose Fensterhöhlen in grauen Steinmauern, die Dächer weitestgehend ohne Ziegel. Das dritte Haus bot mit Abstand den traurigsten Anblick. Da standen sich nur noch zwei Außenwände gegenüber, überspannt vom Gerippe des Dachstuhls, und eine Schneise verlief durch den wohnlichen Kern, als wäre eine Planierraupe mitten durchs Haus gewalzt. »Wahnsinn!«, sagte ich. »Krasse Ruinen.«

»Das wird alles schon noch!«, behauptete Andrin und verbreitete einen Optimismus, der mir angesichts der hier versammelten steingewordenen Depression ziemlich naiv erschien.

Nach einer nahezu rechtwinkligen Kurve fuhren wir über eine alte Steinbrücke, die gleichzeitig als Wehr diente, auf die andere Seite des Sees. Auch hier gab es mehrere Häuser, die respektvoll Abstand voneinander hielten, als hätten ihre Erbauer einander nicht ausstehen können.

Diese Häuser waren besser erhalten als die auf der anderen Talseite. Einige schienen bewohnt oder zumindest bewohnbar zu sein. An einem Haus wurde gebaut, zwei wurden offensichtlich sogar beheizt, denn aus ihren Schornsteinen quoll Rauch. Der Wind wehte so kräftig, dass er die Fahnen bereits an den Schornsteinkanten abknickte und gen Boden drückte.

»Wie viele Leute, hast du noch mal gesagt, leben hier oben?«, fragte ich, und er antwortete ausweichend, es wären früher mehr gewesen.

»Verstehe«, sagte ich, obwohl ich nichts verstand. Ein Wortwechsel wie in der Anfangsszene eines zweitklassigen Thrillers, dachte ich, jetzt ein Kamerazoom, das Gesicht der Darstellerin, mein Gesicht, in Großaufnahme, der Ausdruck irgendwo zwischen aufsteigender Panik und der Erkenntnis, dass es bereits in der nächsten Einstellung ziemlich gefährlich werden könnte und dass hier eine Geschichte erzählt wurde, in der sich eine vertrauensselige Person, in diesem Fall bedauerlicherweise ich, ins Unglück stürzte, weil sie freiwillig zu einem Psychopaten ins Auto gestiegen war. Und das alles nur, weil es ein wenig geregnet hatte.

Vorsichtig und nur aus dem Augenwinkel musterte ich Andrin erneut, fand, dass er verkniffener dreinschaute, ausgerechnet jetzt, da der schwierigste Teil der Fahrt doch überstanden war.

»Ist was?«, fragte er misstrauisch, weil er meinen Blick gespürt hatte.

»Alles gut!«, versicherte ich schnell und hakte nach, um dem Kopfkino einen Riegel vorzuschieben: »Und wie viele Einwohner hat Voglweh heute genau?«

»Eigentlich sind drei Häuser bewohnt, aber der Koch ist vergangenen Herbst weggegangen«, wich er wieder aus.

Sinnlos, dachte ich und beschloss, es dabei zu belassen. Genau genommen konnte es mir total egal sein, wer hier wann und mit wem lebte oder gelebt hatte.

Unterdessen hatten wir das Baustellenhaus passiert, neben dem ein provisorisch errichtetes Wellblechdach eine Schubkarre, eine Betonmischmaschine und anderes Werkzeug vor dem Regen schützte. Es war kein Neubau, das Haus war alt, ein heftiger Sanierungsfall, wie mir schien, der bis zu seiner Fertigstellung noch jede Menge Arbeit, Zeit und Geld verschlingen würde.

»Da bin ich gerade dran, bin aber bald fertig«, erklärte Andrin und verbreitete wieder diesen schwer nachvollziehbaren Optimismus, über den ich mich schon auf der anderen Talseite gewundert hatte.

»Fehlt ja nur noch das Badezimmer!«, kommentierte ich trocken und er nickte.

Am nächsten Haus hielt er an. Es war verhältnismäßig klein, massiv aus grauem Stein gebaut und wies im Gegensatz zu seinen Kollegen nicht die geringste Beschädigung auf. Haustür, Fenster und die Klappläden waren leuchtend blau gestrichen und gaben dem Haus einen wohnlichen und einladenden Touch.

»Meine Frau wohnt hier«, sagte er.

»Du nicht?«, wunderte ich mich.

»Nein, ich wohne da oben!« Er beugte sich über das Lenkrad und blickte in Richtung eines weiter oben am Hang stehenden Gebäudes. Es war um einiges größer als das, vor dem wir gehalten hatten, sah aber mindestens genauso intakt und gepflegt aus. Klappläden und Türen waren rot-weiß lackiert, rot die Gartenbank auf der Terrasse, leuchtende Farbkleckse im verregneten Grau und Grün der restlichen Umgebung, die das Haus noch freundlicher und wärmer als das seiner Frau aussehen ließen.

»Ihr habt gleich zwei Häuser!«, stellte ich erstaunt fest. Angesichts der Abgeschiedenheit und Einsamkeit dieses Tales fand ich es schon ein wenig exzentrisch, dass hier oben jeder in einem eigenen Haus wohnte. »Nur um das Risiko zu minimieren«, sagte er.

»So schlecht versteht ihr euch?«, fragte ich und lächelte, als hätte ich seinen letzten Satz als Scherz aufgefasst.

»Nein«, entgegnete er, »wegen der Steinbewegungen, zur Sicherheit. Dann ist sie beruhigter.«

Mich hingegen beunruhigte seine Antwort. Wieder diese verdammten Steine, dachte ich, und es wäre mir in diesem Moment tausendmal lieber gewesen, das Paar lebte lediglich aufgrund unüberwindbarer Beziehungsprobleme in unterschiedlichen Häusern.

Martina Altschäfer:
Andrin[1]
mit Zeichnungen der Autorin
Mirabilis Verlag
280 S., geb., 20,00 €

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