nd-aktuell.de / 02.09.2020 / Kultur / Seite 9

Über die Angst vor dem Tod und dem Leben

Bis zum 29. September läuft das 11. Arabische Filmfestival in Berlin

Philip Malzahn

Schon die ersten Tage von Muzamils Leben sind vom Tod bestimmt. Während Muzamils Beschneidung bricht ein sufistischer Derwisch zusammen hinterlässt bei der versammelten Dorfgemeinschaft die Überzeugung, dass der Junge nur 20 Jahre alt werden wird. Und so verbringt er jeden weiteren Tag als Gebrandmarkter. Die anderen Kinder im Dorf, deren Namen man nie erfährt, quälen ihn, sperren ihn etwa in einen improvisierten Sarg. Seine Mutter, geplagt von Schuldgefühlen und besessen von der Idee des baldigen Ablebens ihres Sohnes, kratzt jeden Tag einen Strich in die Wand des Lehmhauses. Nicht zuletzt um sich mit dem bevorstehenden Tod abzufinden, flüchtet sich Muzamil in die Religion.

»You will die at twenty« (»Du wirst mit 20 sterben«) heißt der Eröffnungsfilm des diesjährigen Arabischen Filmfestivals in Berlin, ALFILM. Der Film aus dem Sudan ist 2019 erschienen und der erste Spielfilm aus dem krisengebeutelten Land seit über 30 Jahren, der internationale Bekanntheit erlangt. Das liegt nicht am fehlenden Talent der dortigen Filmemacher, wie »You will die at twenty« eindrucksvoll unter Beweis stellt, sondern an der langjährigen Diktatur des Präsidenten Umar al-Baschir, dessen brutaler Sicherheitsapparat dem sudanesische Kino mit seinem jede Luft zum Atmen genommen hat.

Da al-Baschir vor einem Jahr durch das Militär gestürzt wurde, ist die Geschichte Muzamils in einem Land gedreht worden, dass es so plötzlich gar nicht mehr gibt. Doch trotzdem sind viele Probleme, denen der Todgeweihte irgendwo im sudanesischen Hinterland begegnet - Aberglaube, Armut, und das Gefühl, Geisel des eigenen Schicksals zu sein -, noch immer real. Und so ist »Du wirst mit 20 sterben« vielmehr ein Film über die Angst vor dem Leben als über die Angst vor dem Tod. Auf alle Fälle ist er einen Besuch beim nun 11. Arabischen Filmfestival Berlin wert.

Das Festival sollte bereits im April stattfinden. Doch die Coronapandemie funkte auch den Organisatoren dazwischen. »Deshalb gibt es nun im September die Nomadenversion des Festivals«, so Claudia Jubeh, die Direktorin und Mitinitiatorin von ALFILM. Konkret heißt das: Die üblichen Gespräche mit Regisseuren und Schauspielern finden per Videoübertragung statt. Dazu werden die meisten Filme aufgrund verringerter Kapazitäten der Kinos zweimal gezeigt.

Zu sehen sind Dokumentar-, Spiel- und Kurzfilme unter anderem aus dem Libanon, Syrien, Libyen, Algerien, Palästina und dem Irak. Im Mittelpunkt stehe dieses Jahr der Kampf der Frau, so Jubeh. Die Schwierigkeit sei, »die bisher unerzählte Geschichte des Widerstands zu erzählen, ohne dabei die arabische Frau zu verleugnen.« Zerbrochen werden soll das Klischee der bemitleidenswerten und unterdrückten Frau, die auf eine europäische Vorstellung des Feminismus angewiesen ist, um sie zu befreien - etwa in »Freedom Fields« (»Felder der Freiheit«): In dieser Dokumentation begleitet die Regisseurin eine Gruppe junger Frauen bei dem Versuch, die erste libysche Frauenfußballnationalmannschaft im postrevolutionären Libyen nach dem Sturz Muammar al-Gaddafis zu etablieren.

Die 2020 für einen Oskar nominierte Dokumentation »For Sama« (»Für Sama«) ist das gnadenlose Selbstporträt einer Mutter, die auf einer Videokamera ihre Versuche festhält, im umkämpften Aleppo zur Hochphase des syrischen Bürgerkriegs ihre Tochter großzuziehen. Doch hier ist Vorsicht geboten: Der Film gibt unzensierte Einblicke in einen Krieg, der bislang eine halbe Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Dementsprechend hart und bewegend sind auch seine Bilder.

Wer keine Lust auf Blut hat, kann sich bei ALFILM auch zurücklehnen. Etwa bei »Talking about Trees« (»Gespräche über Bäume«), einer sudanesischen Doku über vier in die Jahre gekommenen Filmemacher, die einst an den renommierten Hochschulen in Moskau und Potsdam studiert haben. Dort trinken alte Männer Schnaps, während sie über alten Zeiten schwärmen und mit viel Selbstironie an der Frage verzweifeln, wie sie der Jugend unter der Diktatur al-Baschirs die Lust am Kino vermitteln können.